Nach der Messe begrüßte Carlo die wenigen Gemeindemitglieder auf dem Kapellenvorplatz, die an diesem sonnigen Maimorgen in der alten Burgkapelle an der Sonntagsmesse teilgenommen hatten. Es waren nur ältere Frauen und einige Schulkinder, denn die meisten Hallberger schliefen sich noch von Anstrengungen der Ersten-Maifeier am Vorabend aus. Von den Fußballspielern und ihren Freundinnen war keine Spur zu sehen. Während Carlo die Messfeier gehalten hatte, genoss Paul die Sonne im Garten vor dem Burggebäude und wartete auf ihn. Als sie dann zu Carlos Wohnung schlenderten, tauchte eine vertraute Gestalt unterm Torbogen in der nur teilweise erhaltenen Burgmauer auf, Alies, ihr Cupido vom gestrigen Abend.
Der junge Torwart war völlig außer Atem vom steilen Anstieg auf den Burgberg. Nicht so der spindeldürre Junge in seinem Schlepptau. „Hast Du verschlafen, Alies?“ begrüßte Carlo den neuen Freund, „Die Messe ist gerade vorbei aber wenn Deine schwarze Seele nach gestern Abend Vergebung braucht, könnte ich ja …...“ Aber Paul unterbrach ihn, „Wie lange habt noch gefeiert? Du siehst nicht gerade ausgeschlafen aus! Es ist wohl eher spät geworden, oder?“ „Um fünf war's immer noch nicht zu Ende!“ grinste Alies matt und konnte sich eine kleine Stichelei nicht verkneifen. „s’Babettle und s‘Bärbelle waren gestern arg enttäuscht, dass ihr so früh gegangen seid. Ich konnt sie gar nicht genug trösten. Die hätten euch zwei gar zu gern rumgekriegt“ dann lachte er spitzbübisch, „Ein paar Fußballspieler hatten sogar gewettet, dass die euch rumkriegen. Aber ihr habt ja gekniffen!“
Das Gesicht des Kaplans lief rot an, was es immer tat, wenn er verlegen war, „Oh, ich glaub, das war ein Missverständnis. s’Bärbelle ist ja recht hübsch, aber ich hab's Gelübde abgelegt, da steht vom rumkriegen lassen nichts drin.“
Nun nahm Alies sich Paul vor, „Aber Du bist doch Lehrer, Herr Beck! Hast Du auch ein Gelübde abgelegt? Das glaubt Dir keine.“ Paul schmunzelte nur abwehrend.
Inzwischen hatte Paul Alies’ Begleiter näher in Augenschein genommen. Der Junge, er schätzte ihn auf 13 oder 14, trippelte nervös von einem Bein auf andere. Als Lehrer wusste Paul aus Erfahrung, dass der Junge dringend aufs Klo musste. „Ich glaub wir müssen schnell rein, bevor noch ein Malheur passiert.“ Damit fasste er das Ebenbild von Alies am Arm, „Ich zeigt Dir wo Du pinkeln kannst, sonst vergiftest Du noch die Blumen im Burggarten.“ und zog ihn ins Haus.
Carlo war froh über die Ablenkung, „Ist das Dein jüngerer Bruder, richtig? Der ist ja schon größer als Du aber dünn wie eine Zaunlatte. Lässt Du ihn verhungern?“ Als Alies verneinend den Kopf schüttelte, meinte er, „Gell, der geht aufs Hall-Internat. Jedenfalls hab ihn dort schon gesehen.“ „Andreas, jeder nennt ihn aber Anders, also Anders ist mein Halbbruder und fünf Jahre jünger als ich. Der braucht heute schon größere Schuhe als ich und seine Hosen kann er mir auch bald vererben. Ich bin halt klein geblieben!“
Ein wenig später saßen die drei, also Carlos, Paul und Alies, um den niedrigen Couchtisch im riesigen Raum, der fast das gesamte Erdgeschoss des Burggebäudes einnahm und tranken Limonade und Anders, der auf Zehenspitzen vom Klo in den Raum geschlichen war, stand schüchtern hinter dem Sessel, in der sein Halbbruder Platz genommen hatte. Als Alies das merkte, drehte er den Kopf zum Kaplan und erklärte Carlo „Anders, also wegen dem bin ich hier! Komm Brüderchen, sag was Du vom Herrn Kaplan willst, der reißt Dir den Kopf schon nicht ab.“
Da Anders stumm blieb, lächelte Paul ihm zu „Ich hab genau so einem Schüler wie Dich, Andreas. Der ist jedoch bestimmt einen Kopf kleiner als Du, sonst jedoch seht ihr euch verdammt ähnlich. Magnus ist jedoch das glatte Gegenteil von Dir. Wenn ich den dazu auffordere, redet er wie ein Wasserfall! Komm beicht dem Kaplan was Du auf dem Herzen hast. Ich versprech's Dir, ich helf Dir, wenn der Deinen Wunsch nicht erfüllen will.“
Anders holte tief Luft, aber dann sprudelte es nur so aus ihm heraus, „Wegen Veit ist’s! Wegen Veit Scharpf bin ich gekommen, Herr Kaplan.“ Der schaute ihn erstaunt an. „Veit Scharpf, kenn ich nicht! Geht der mit Dir ins Internat oder ist er Ministrant? In meinem Religionsunterricht ist keiner mit diesem Namen!“ „Nein, kein Schüler! Wegen Veit Scharpf, dem Raubritter, bin ich da. Der war hier im Turm eingesperrt!“ „Du, die Geschichte kenn ich nicht. Kannst Du mich in sie einweihen, Andreas?“ Jetzt stand Paul auf und zog Anders aufs Sofa. „Komm setzt Dich und erzähl. Im Sitzen erzählt sich’s besser!“
Aus Anders sprudelte es jetzt heraus, „Veit Scharpf war Raubritter, begann er, „Und hauste vor etwa 500 Jahren mit seiner Bande hier auf der Hallburg. Er hat das Land unsicher gemacht, das ganze Land, von hier bis Würzburg und weiter. Er hat Kaufleut überfallen, die auf der Straß ihre Waren nach Nürnberg oder Mainz brachten. Er hat ihnen die Waren geraubt aber auch das Geld, das Gold und die Edelsteine abgenommen. Der Veit hat Klöster und Kirchen überfallen und die Pfarrer und Nonnen als Geiseln genommen. Die kamen nur gegen Lösegeld frei.“
Anders verschnaufte kurz, „Veit Scharpf war jedoch kein Robin Hood, nein! Er hat nicht nur die Reichen ausgeraubt, sondern auch die Armen, die Handwerker, die Bauern und Fronbauer. Den Bauern hat er oft die letzte Kuh vom Hof genommen und ihre Schweine und Schafe mussten sie ihm ausliefern.“
„Noch schlimmer war das, was er mit den Mädchen machte. Wenn die Räuber auf den Höfen einfielen, versteckten sich die Mädchen und jungen Frauen im Stroh oder im Wald. Aber wehe, wenn seine Bande sie dennoch fand! Dann wurden sie mit auf die Burg geschleppt. Dort mussten sie dem Veit und seinen Räubern dienen. Nicht nur in der Küche oder im Stall mussten sie arbeiten, nein! Sie mussten dem Veit und seinen Männern auch das Bett wärmen. Er behielt sie jedoch nicht für immer, sondern nur solange, bis sie einen dicken Bauch hatten. Dann schickte er sie weg, denn Kinder hasste er.“
Anders hatte beim Hervorsprudeln der Erzählung einen ganz roten Kopf bekommen. Jetzt schnaufte er durch und trank einen Schluck Limonade. „Bald hasste das ganze Land den Veit Scharpf, ihn und seine Bande. Nicht nur die Kaufleute, Händler, Handwerker und Bauern hassten ihn, sondern auch der Fürstbischof von Würzburg und auch der von Mainz!“
„Und was machte Veit Scharpf mit dem Raubgut?“ fragte Paul.
„Das Raubgut verkaufte er an andere Kaufleute oder gab es gegen Lösegeld zurück. Gold und die Edelsteine aber behielt er. Das meiste davon soll er versteckt haben. Aber wo? Keiner weiß das! Veit hat alle, die ihm beim Verstecken helfen mussten, ohne Erbarmen umgebracht.“
Anders nahm einen weiteren Schluck Limonade und schloss für einen Augenblick die Augen. „Der Fürstbischof von Würzburg und die Räte der Städte aber ließen sich das nicht ewig gefallen. Sie sammelten Landsknechte und die begannen Veit Scharpf und seine Bande zu jagen. Zuerst belagerten sie die Burg und eroberten sie. Veit zog sich darauf hin mit seinen Räuber in die Wälder zurück. Aber auch dort machten die Landsknechte Treibjagd auf ihn und seine Bande. Über kurz oder lang hatten sie ihn und viele seiner Mannen gefangen. Die Unterführer ließ der Fürstbischof rädern und den einfachen Räubern wurde die rechte Hand abgehackt. Den Veit Scharpf aber ließ er ins Verlies werfen, weil er auch auf der Streckbank das Versteck seine Goldschatzes nicht verraten wollte.“
Jetzt schaute sich Anders in dem großen Raum um und deutete dann auf ein altes Ölgemälde an der Wand. „Ich glaub, das ist der Fürstbischof, der mit der runden Mütze. Daneben steht sein Provost, sein oberster Vertreter hier auf der Hallburg. Der Provost soll sehr streng gewesen sein, hat uns der Stadtpfarrer erzählt.“
Dann schaute Anders wieder zum Kaplan, „Auf der Burg hatte der Provost das Sagen. Der musste Veit den Prozess machen und sollte vor allem herausfinden, wo Veit das geraubte Gold versteckt hatte. Da der Räuberhauptmann das jedoch nicht verriet, wurde er in das dunkle Verlies im Bergfried geworfen. Dort sollte er bleiben bis er das Versteck seiner Beute verraten hatte oder bis er vor Hunger und Durst gestorben war.“ Anders atmete laut durch. „Jede Woche ließ der Provost Veit mit einem Korb aus dem Verlies hochholen und befragte ihn hochnotpeinlich. Veit aber blieb verstockt und verriet das Versteck seines Schatzes nicht. Nach acht Wochen war er schon ganz abgemagert vom Hunger und geschwächt von den Martern. Der Provost ging daher davon aus, dass er nach weiteren sieben Tagen tot sein oder das Versteck des Schatzes verraten würde. Aber er hatte sich verrechnet! Als die Büttel des Provost Veit nach der fünften Woche mit dem Korb aus dem Verlies holen wollten und nach ihm riefen, erhielten sie keine Antwort. Sie holten daher eine Leiter und stiegen in Verlies hinunter. Da war er nicht! Das Verlies war leer. Es war weder ein lebender Veit da, noch ein toter, auch ein Skelett war nirgends zu finden!“
Paul schaute Anders neugierig an, „Na spurlos konnte er ja nicht verschwinden. Hat ihm jemand heraus geholfen?“ „Nein, nein!“ Anders schüttelte empört den Kopf. „Der Bergfried war immer fest verschlossen gewesen und wurde außerdem Tag und Nacht bewacht. Veit war verschwunden, einfach weg! Die Knechte des Provost leuchteten das Verlies mit Fackeln aus und klopften Wände und Fußboden nach einem Fluchttunnel ab. Alles vergebens. Nichts! Nirgends klang es hohl. Als sie jedoch den Boden tief genug aufgruben, fanden sie einer Kriechgang, der zur Krypta der Kapelle führte. Sie durchsuchten die Krypta aber fanden nichts, weder den Veit, noch den Eingang zu einem Fluchttunnel, noch nicht einmal ein Loch, durch das eine Maus hätte herausschlüpfen können. Da der Zugang zur Krypta mit einer schweren Eisentür verschlossen war, konnte auch nicht aus Krypta geflohen sein.“
„Woher weist Du denn das alles?“ frage Carlo. „Aus der Schule und vom Großvater!“ erklärte Anders, „Der hat steif und fest behauptet, das aus dem Kerker unterm Bergfried noch ein zweiter Gang, ein Geheimgang heraus führt. Der soll ins Tal gehen und in einer Höhle enden, in der eine Quelle entspringt.“ „Und hat jemand die Höhle gefunden?“ fragte Carlo. „Ne, aber den Veit auch niemand mehr gesehen! Der war wie vom Erdboden verschwunden, niemand der ihn kannte hat ihn jemals wieder gesehen.“
Jetzt fuhr Alies dazwischen, „Das stimmt möglicherweise nicht. Denn in Nürnberg, sagt man, sei bald nach seinem Verschwinden ein Bettler aufgetaucht, der immer mit Goldstücken bezahlt hätte, obwohl er ganz zerlumpt herumgegangen wäre. Ob das der Veit war? Keiner weiß es. Es gibt jedoch einen Kupferstich von Dürrer, der einen alten Mann darstellt. Als die Bauern von Hallberg den Kupferstich sahen, war alle der Meinung, dass das der Veit sei, der Veit Scharpf, so wie er leibt und lebt, nur älter und runzliger!“
Nachdem alle eine Weile still dagesessen hatten, wandte sich Paul an Anders, „Andreas, das ist ja eine tolle Geschichte und Du willst den Schatz finden, der irgendwo zwischen dem Bergfried und der Quelle versteckt ist.“ „Klar! Dazu muss ich aber erst muss ich den geheimen Gang finden und dazu muss ich das Verlies durchsuchen. Vielleicht finde ich dort ein Gang zur Quelle und zum Schatz!“ Er schnaufte ganz aufgeregt, „Bestimmt führt ein Gang dort hin, bestimmt, und ich finde ihn!“
„Wenn die Geschichte vom Schatz nur zur Hälfte wahr ist, dann sollten wir unbedingt danach suchen.“ stimmte ihm Carlo zu, „Heute geht’s aber nicht, Andreas. Der Bergfried ist abgeschlossen und der Schlüssel liegt bei Stadtpfarrer Mayer. Komm an Freitag nach der Schule vorbei, bis dahin kann ich ihn besorgen. Dann können wir zusammen das Verlies durchsuchen. Vielleicht finden wir ja den Eingang zum geheimen Gang.“ Anders Augen leuchteten vor Freude und er wollte dem Kaplan schon um den Hals fallen, als sein Bruder ihn bremste, „Mach Dir ja nicht zu viel Hoffnung, kleiner Bruder. Bisher hat keiner den Gang gefunden und ob das mit dem Schatz stimmt, wer weiß?“
„Du musst nur ganz fest daran glauben, Andreas.“ ermunterte ihn Paul, „Aber weißt Du was? Ich glaube, ich kenn jemand, der genau so gern wie Du nach Schätzen sucht. Vielleicht kann ich den am nächsten Freitag mitbringen, wenn ich den Kaplan besuchen komme.“
„Du meinst wohl Magnus?“ schmunzelte Carlo, „Ich wusste gar nicht, dass er nicht nur alles sammelt, was er findet, sondern auch ein Schatzsucher ist. Du hast mir auch nicht verraten, dass Du ihn schon nächste Woche mitbringen willst. Aber meinetwegen gern, Paul. Du musst ihn ja kennen, denn Du warst ja auch immer ein Schatzsucher!“ „Klar doch, Carlo. Ich wette er kommt mit, wenn ich ihm auch nur etwas vom Schatz erzähle. Ich hab Dir doch erzählt, dass Magnus an allem Geheimnisvollen interessiert ist. Er sammelt alles, Versteinerungen, alte Knochen, Federn, alles Alte und ihn interessiert besonders das, was Rätsel aufgibt.“ Dann lächelte er Anders aufmuntern zu, „Wenn ich Magnus vom Schatz erzähle, kommt er bestimmt mit und hilft Dir suchen.“
Am späteren Nachmittag, als Paul schon auf Suzi saß und der Motor grummelte, kam Carlo nochmals auf den Besuch von Magnus zu sprechen. „Du musst Deinen Ganymed unbedingt mitbringen, Pollux. Andreas und er verstehen sich bestimmt gut. Außerdem sagt mir mein Gefühl, dass die beiden mehr gemeinsam haben als nur ihr Aussehen.“
„Ich will's versuchen, versprechen kann ich's aber nicht. Das ist nicht so einfach wie Du denkst Castor. Obwohl? Na ja! Erstens!“ Pollux betonte das Erstens extra, „Magnus wird von drei Frauen, eigentlich von acht Frauen bewacht, seiner Mutter, seiner Großmutter, seiner Schwester, und von vier Benediktinerinnen, die im gleichen Haus wohnen und außerdem von der Pfarrköchin, also der Schwester von Pfarrer Angler. Die passt auf ihren Bruder auf, dass er sich ja nicht an seinen Schäfchen vergreift, na ja eher an seinen Schafböcklein. Die mag er besonders. Das siehst Du schon daran, dass er Magnus ins Herz geschlossen hat! Der ist bestimmt der Einzige, der bestimmt nichts gegen die Spritztour von Magnus mit mir hat.“
Paul machte den Helm fest, „Zweitens ist Magnus‘ Mutter ist mit dem Schulleiter verbandelt und sie fragt ihn bestimmt, ob sie mir Magnus anvertrauen kann.“
Carlo verdrehte die Augen! „Weiß der von uns? Wenn ja, dann hast Du schlechte Karten.“„Der weiß nur, dass ich einen Schulfreund habe, der Kaplan ist, sonst nichts.“„Hm, das ist nicht verdächtig, besonders weil ich hier in einen kleinen hinterwäldlerischen Flecken wohne.“
Carlo überlegte einen Augenblick, „Aber zurück zu Magnus. Hat der denn keinen Vater?“ „Jungfernzeugung war’s bestimmt nicht bei Magnus.“ Lachte Paul, „Aber ja, d. h. Nein! sein Vater ist tot und Schulleiter Gerstle, der gern Vater spielen würde, den mag er nicht. Wahrscheinlich ist er eifersüchtig!“
„Mann Pollux, erinnerst du dich! Dein Ganymed wird ja sogar von acht Frauen erdrückt und nicht wie Du von dreien! Hast Du nicht schon gestöhnt, dass Dir deine Mutter und deine beiden Schwestern keine Luft zum Atmen lassen, obwohl Du einen Vater hattest? Der arme Magnus muss unbedingt raus von zuhause und Männerluft schnuppern. Das kann er hier. Dann sieht auch er wie harmonisch es in einem Männergesellschaft zugehen kann.“