KeYNamM hastete über den Platz, dem Stadthaus mit dem Gerichtssaal entgegen. Er hatte es noch nie so eilig gehabt, er wollte frei sein, am Besten sofort. Er wollte den Lohn seines Kampfes auf der Himmelsleiter ernten. Frei sein! Dem Imperium den Rücken kehren! Zurückkehren ins Unland am Fluss Draa! Seine Aufgabe erfüllen! Seine Aufgabe als Amestan, als Beschützer der Menschen im Unland.
„Halt, halt …", rief der Ältere der Stadtwächter, „… nicht ins Stadthaus! An so einem Tag verhandelt Gouverneur Gwasila im Garten hinter seiner Villa, nicht im Gerichtssaal!"
Als KeYNamM irritiert zu den Wächtern blickte, versuchte der andere es ihm zu erklären. „Ein ordentliches Gericht wird tagen, in der Villa, der Gouverneur, Schöffen, der Ankläger, der Stadthauptmann und ein Schreiber."
„Der Hauptmann ist in Ordnung. Er verfolgt alle Verbrecher unerbittlich, aber er ist gerecht. Glaub mir, alle deine Missetaten sind in seinem Buch verzeichnet, ihre Schwere, der Ort an dem du sie begangen hast, sogar der Zeitpunkt!"
„Anir der Ankläger ist neu hier! Vor dem brauchst du keine Angst zu haben. Er ist noch jung und er richtet nach Recht und Gesetz, berichten die Beschuldigten! ER beugt das Gesetz nicht."
„Bis jetzt! Er gehört noch nicht zum …", schwieg aber dann. „… zum Stadtklüngel.", wollte er sagen, schwieg aber lieber.
KeYNamM war beruhigt, aber sein Misstrauen blieb.
In der schmalen Gasse, die neben dem Stadthaus bergauf führte, waberte die Luft in der Spätnachmittagshitze. Die Villa des Gouverneurs von Tinghir war das größte und letzte Gebäude vor dem steilen Anstieg der staubigen Gasse zum Plateau des Stadtberges. Die Villa war wie ein Schwalbennest an den Steilhang geklebt. Sie war mächtig und abweisend. An das Gebäude anschließend, auf der Höhe des Oberstocks, war ein Garten in die Flanke des Steilhangs gehauen. Er war trapezförmig und seine Breite schrumpfte von der des Gebäudes, dort wo er an die Villa grenzte, zu kaum einem Meter am anderen Ende. Die Balustrade des Gartens zur Gasse hin war mit Wein bepflanzt, der über die Brüstung herabhing. Nach hinten, zum Berghang hin, schütze eine hohe Mauer den Garten vor abbröckelnden Felsbrocken. Auch an dieser Wand kroch Wein hoch und auf der Mauerkrone waren Kübel aufgereiht, von denen jetzt zur Hochsommerzeit vertrocknete Pflanzenstängel herabhingen.
Im Schatten der Mauer war eine Tafel aufgebaut, an deren zur Mauer gewandten Längsseite die Gäste des Gouverneurs Platz genommen hatten. Gouverneur Gwasila selbst thronte in der Mitte, breit, feist und rotgesichtig. Ein Tarbusch mit goldener Quaste schützte seinen kahlen Schädel. Die Plätze rechts neben ihm nahmen drei Männer ein, die drei wichtigsten Honoratioren von Tinghir. Der Rotbärtige mit dem weißen Turban beherrschte das Nachtleben der Stadt, d.h. er war Bordellwirt, der Arm wie Reich mit „Frischfleisch" versorgte, wie er sich ausdrückte. Der mit dem schwarzen Bart hatte durch Bestechung von Hofschranzen den Getreidehandel im Ostteil des Imperiums in seine Hand gebracht und seine Förderer verdienten mit ihm. Der Dritte, der Hagere, war bartlos. Seine Karawanen transportieren alles, legale und illegale Güter. Von Salz aus der großen Wüste im Südwesten hin zu getrocknetem Fisch vom Meer im Norden, von Feigen und Datteln aus den Oasen, bis zu Sklaven aus den angrenzenden Ländern. Sie gehörten zur Geldelite der Stadt und kontrollierten alles, auch den Gouverneur.
Heute hatte sie Gouverneur Gwasila als Geschworene zu dem Prozess gegen den Amestan vom Draa eingeladen. Er wusste, sie waren die richtigen Geschworenen für einen solchen Prozess, der der endgültigen Freilassung des Gewinners eines Kampfes auf der Himmelsleiter vorauszugehen hatte. Alle drei hassten den König vom Unland, da er ihre Geschäfte gestört hatte, als er noch frei war. Ihre Teilnahme sollte sicherstellen, dass der Prozess so ausging, wie der Gouverneur es wollte. Und der wollte, dass der Amestan, aus welchem Grund auch immer, für alle Zeit aus dem Verkehr gezogen wurde. Ein Grund würde sich in der Verhandlung ergeben, dafür würde er schon sorgen, Gesetz hin oder her.
Links vom Gouverneur saßen die anderen Teilnehmer am Prozess, der Staatsanwalt Anir, ein junger Mann, der vor kurzem erst vom Imperator nach Tinghir gesandt worden war, der Stadthauptmann, ein grimmiger aber gerechter Mann und ein Schreiber.
Gouverneur Gwasila hatte reichlich aufgetischt, Couscous mit den besten Stücken vom Lamm und Geflügel, den besten Gemüsen die die Jahreszeit hergab, Fladenbrot belegt mit geröstetem Fleisch von Wildtauben, süßen Reisbrei, Muhallabia, ein mit Datteln gefülltes süßes Gebäck, grünen heißen Tee mit Pfefferminzblättern für die Strenggläubigen und süßen Wein für die übrigen, zu denen er sich zählte.
Jetzt, zu Beginn der Verhandlung, hingen die Geschworenen und der Gouverneur satt, müde und leicht benebelt vom Wein in ihren Stühlen. Weder sie, noch der Gouverneur nahmen daher KeYNamM wahr, als ihn die beiden Wächter die schmale Treppe von der Gasse hinauf in den Garten führten. Sie kannten das Ritual schon und setzten sich, den Gewinner des Kampfes auf der Himmelsleiter zwischen sich, dem Gouverneur gegenüber auf eine Bank an der Balustrade.
Allein der Staatsanwalt blickte gespannt auf den Ankömmling. Er war neu in der Stadt und es war das erste Mal, dass er bei einem Prozess teilnehmen sollte, der über die endgültige Freilassung eines Mannes, der die Himmelsleiter bezwungen hatte, entschied. Ankläger Anir blickte den Mann gegenüber an und versuchte ihm in die Augen zu schauen, aber der hielt die Augen geschlossen, da ihn die Spätnachmittagssonne blendete. Anir hatte sich einen so berüchtigten Verbrecher anders vorgestellt. Der schmale Mann in dem zerrissenen Hemd war ihm sogar sympathisch. Endlich schaute er auf, ihre Augen begegneten sich und der Ankläger konnte nicht anders, als dem Fremden zuzulächeln.
Endlich nahm auch der Gouverneur von KeYNamM Notiz. Er musterte ihn und dann winkte er eine alte Dienerin mit einer weiteren Speise heran. Er hatte sich etwas Besonderes ausgedacht, um den Mann zu demütigen, um ihn, den Amestan, zu reizen, damit er einen Grund fände, dessen Freilassung abzulehnen.
„Jetzt kommt das Beste des heutigen Festtages, Freunde!", prahlte der Gouverneur, nahm den Deckel von der Platte und da lag das Leibgericht des Propheten, das Tharid, sechs dampfende Rollen aus papierdünnem Fladenbrot.
„Alter Räuberhauptmann!", sprach der Gouverneur den Dürren an, „Schnuppere dran? Riechst du es?" Dann hielt er den beiden Dicken die Platte unter die Nase, „Riecht ihr es? Mit was sind die Röllchen gefüllt? Wer kann es mir sagen?"
Alle Drei kannten den ausgefallenen Geschmack des Gouverneurs. Als erster versuchte es der Bordellbesitzer. „Gazellenhoden!", rief er. Als der Gouverneur den Kopf schüttelte, versuchte es der Getreidehändler, „Affenhoden!" Wieder Kopfschütteln. Mit „Löwenhoden" versuchte es der Getreidehändler.
„Pah! Gazellenhoden, nein! Affenhoden, nein! Löwenhoden, nein! Das habe ich euch doch schon serviert. Heute ist der König vom Unland unser Gast!", und er beugte sich mit spöttischer Miene zu KeYNamM. „Was ist wohl eines Königs würdig!" Bevor er weiterredete, vergewisserte er sich, dass KeYNamM zuhörte und wandte sich dann an den Hageren. „Habe ich deiner Karawane nicht vor zwei Tagen drei kleine wimmernde Jungen als Tribut für den Imperator mitgegeben, drei hellhaarige Jungen aus dem Unland am Draa? Was glaubst du, warum die so wimmerten?", dabei fixierte er KeYNamM. „Ich habe die drei eigenhändig kastriert!" Jetzt wandte er sich direkt an ihn. „Und du konntest das nicht verhindern, du der Amestan, du der große König vom Unland!" Befriedigt plusterte er sich auf, „Hoden von Wildfängen aus dem Draa sind das beste Stimulans für uns Männer!"
Nun wandte er sich wieder an den Hageren. „Wie viele Söhne hast du Gauner? 20, 25? Lass dir heute Nacht eine Jungfrau von unserm Zuhälter schicken!" Dann zum Bordellbesitzer „Du hast doch immer frisches Fleisch in deinen Etablissements, Jungfrauen vom Draa, mit blondem Haar, Jungfrauen aus dem Süden, schwarz wie die Nacht, Jungfrauen von der Küste im Norden, weiß wie die Gipfel der Berge! Was kannst du ihm anbieten, ihm und deinem Freund dem Getreidehändler?" Der Gouverneur schnaufte vor Vergnügen. „Los greift zu, ich biete euch die Tharids nicht ein zweites Mal an."
Sein nächstes Ziel war der Ankläger. „Du bist schon zwei Monate hier Staatsanwalt. Als Ankläger hattest du nur drei Prozesse zu führen gehabt. Zwei davon gewonnen! Du hattest also Zeit genug für andere Dinge! Du bist jung, du bist stark wie ein Bulle! Und was höre ich? Du hast kein Weib! Nicht einmal eine junge Dirne lebt in deinem Haus, die dir das Bett wärmt. Und hübsche Jungen gehen auch nicht ein und aus! Ich wette deine Eier sind zum Platzen gefüllt! Iss eins von den Röllchen, das macht Mut und dann geh mit in seinen Puff." Dabei deutete er auf den Rotbärtigen. „Such dir die Schönste aus! Machs mit ihr, bis du ihn nicht mehr hochkriegst!" Als er noch mit schlauem Grinsen hinzufügte, „Oder bist du impotent?", zuckte der Staatsanwalt nur mit den Schultern und wies das gefüllte Teigröllchen zurück.
Aber der Gouverneur gab nicht nach. „Merk dir eins, junger Mann, wenn du in dieser Stadt zu denen gehören willst, die die Stadt regieren, dann befolge meinen Rat! Stimmst du zu Stadthauptmann?" Der aber zuckte nur mit den Schultern. Dem Ankläger aber legte der Stadthauptmann eine Hand zur Beruhigung auf die Schulter und tippte sich mit der anderen an die Stirn.
Der Gouverneur bemerkte die Gesten des Stadthauptmanns nicht, da er das nächste Opfer suchte. „Hallo Schreiberling, bist du scharf auf ein Röllchen? Glaubst du, das ist etwas für dich?" Er hielt dem Schreiber die Platte mit den dampfenden Teigrollen hin, zog sie aber sofort wieder grinsend zurück. „Nichts für dich! Du hast schon eine Frau und vier Kinder zu versorgen! Bei deinem Gehalt! Dann esse ich die restlichen Tharids doch lieber selbst!" Unter beifälligem Gelächter seiner drei Freunde verschlang er die Teigröllchen und rülpste dann ausgiebig.
Die beiden Wächter hatten während der provozierenden Darbietung des Gouverneurs KeYNamM nicht aus den Augen gelassen. Als der bei der Schilderung des Schicksals der drei Knaben aufspringen wollte, um den Gouverneur an die Gurgel zugehen, hielten sie ihn fest und einer zischte „Willst du dein Leben verwirken? Der will dich doch nur provozieren! Das macht er immer so!"
Jetzt wandte sich Gouverneur Gwasila seinem eigentlichen Ziel wieder zu. Erst lächelte er, dann herrschte er KeYNamM an. „Steh auf, Feind des Imperiums! Du bist noch nicht frei! Du stehst vor dem Vertreter des Imperators, du selbsternannter König vom Unland, du selbsternannter Amestan, du Beschützer der räudigen Eselficker vom Draa, der läufigen Schlampen vom Draa, die nichts mehr lieben, als von den Affen des Waldes gevögelt zu werden, du Beschützer ihrer hohlköpfigen Missgeburten! Tritt vor! Ich kann dich immer noch zurück ins Straflager schicken oder dich hinrichten lassen! Dein Prozess ist noch nicht zu Ende!""
KeYNamM platzte fast vor Wut. Er ließ es sich aber nicht anmerken, biss sich auf die Lippen, stand auf, trat vor und schwieg!
„Wie nennst du dich eigentlich selbst, du Rebell, der dem Imperium nicht geben will, was ihm zusteht, den Tribut dieses verkommenen Gesindels, das der Imperator schützt, er, der auch die niedrigsten Würmer nicht verkommen lässt! Du versteckst diese Missgeburten von Kindern, wenn die Soldaten des großen Imperators sie holen und einem nützlichen Zweck zuführen wollen." Der Gouverneur machte eine Pause, um KeYNamM die Möglichkeit zum Widerspruch zu geben. Da der stumm blieb, versuchte er ihn anders zu reizen. „Was glaubst du Einfältiger, was aus den Hurentöchtern in der Hauptstadt wird? Hausmädchen? Dienerinnen? Diese Fotzen sind zu nichts anderem nütze als dazu, dass sich unsere jungen Burschen bei ihnen die Hörner abstoßen. Mit ihnen können sie treiben, was sie später mit ihren Ehefrauen nicht machen können, von vorn, von hinten, von oben, von unten!" Dann lachte der Gouverneur höhnisch auf! „Wofür werden denn eure blauäugigen Knaben in der Hauptstadt benötigt? Glaub mir, junge und alte Männer stehen Schlange, um ihnen den Arsch aufreißen zu können! Und eure dreckigen Weiber, diese Schlampen? Die sind für die Soldaten! Was glaubst du, wie diese Hurenweiber sich freuen, wenn jeden Abend eine ganze Kompanie ihre Fotzen ölt! Was glaubst du sonst, warum das Imperium dieses Pack als Tribut fordert?"
Der Gouverneur hatte sich in Rage geredet. Sein Kopf war hochrot, Geifer rannte aus seinem Mund, er schwitzte am ganzen Körper. Jetzt brüllte er den Mann an. „Nenn endlich deinen Namen, deinen richtigen Namen, den mit dem dich deine Hure von Mutter gerufen hat! Sag ihn mir endlich."
KeYNamM bebte vor Wut! Er wollte sich auf den Gouverneur stürzen, aber die Wächter hielten ihn fest. Jedoch noch etwas anderes hinderte ihn daran. Der Ankläger blickte ihm ins Gesicht, blickte in seine Augen und der Blick sagte: „Beruhige dich! Beruhige dich! Der! Der will dich doch nur provozieren! Mach jetzt keinen Fehler!" und das Räuspern des Stadthauptmanns sagte „Vergiss die Provokationen, wenn du freikommen willst!"
„Nenn deinen Namen endlich, du Sohn einer Hurenschlampe und eines räudigen Hundes!", schrie der Gouverneur erneut. Aber der Mann blieb stumm und der Gouverneur wandte sich zum Schreiber, „Wie steht im Vernehmungsprotokoll, KeYNamM? Kein Name! KeYNamM, der Name des Mannes der weniger als Nichts ist, weniger als Schnee in der Sommerhitze, weniger als Mondlicht zur Zeit der hellen Mittagssonne!" Als KeYNamM weiter schwieg, lehnte sich der Gouverneur erschöpft zurück. Seine Provokationen hatten nicht zum Ziel geführt. Der Mann hatte ihn nicht beschimpft, hatte sich nicht auf ihn gestürzt. Jetzt musste der Ankläger seine Arbeit verrichten und er befahl, „Staatsanwalt Anir, du Engel der Rache, Ankläger, deine Aufgabe!"
Der Staatsanwalt blickte kurz auf den Mann und begann dann ruhig. „KeYNamM, König vom Unland! Du verantwortest dich hier vor den Vertretern des Imperiums. Ich, als Vertreter des Imperators, klage dich an, die Tributzahlungen der Bewohner des Unlands an das Imperium zum wiederholten Mal verhindert zu haben. Jene Tributzahlungen, die dem Imperium seit mehr als hundert Jahren zustehen, für den Schutz, den das Imperium den Bewohnern des Unlands gegen die räuberischen Söhne der Wüste, den Tamasheq, den Saad und Maqil gibt!" Dann löste er seinen Blick von dem Mann, blätterte in seinen Unterlagen und fixierte ihn erneut. „KeYNamM, Du rühmst dich der Amestan, der Beschützer der Bewohner des Unlands zu sein! Was gibt dir das Recht, dem Imperium seinen Tribut vorzuenthalten, der da sind:
Im Jahr sechs Knaben und sechs Mädchen im Kindesalter,
im Jahr sechs Jungfrauen und sechs Jünglinge,
im Jahr sechs Frauen im gebärfähigen Alter!
Was gibt dir das Recht, dem Imperium den Zehnten des Viehs vorzuenthalten, der Pferde, Rinder, Schafe und Ziegen? Durch deine Taten hast du nicht das Unland geschützt, sondern seine Menschen gefährdet!"
KeYNamM ließ seine Blicke über das Gericht schweifen, über den Gouverneur, die Beisitzer, den Stadthauptmann und den Schreiber. Sein Blick blieb schließlich am Ankläger hängen: „Nachdem der Häuptling der Banu Saad vor einem viertel Jahrhundert starb und die Saads und Maqils jetzt ein Stamm sind, mit einem König und einem Gesetz, haben die Kel Tamasheq und die Bewohner des Unlands ihre Fehden beigelegt und Frieden geschlossen. Daher haben die Ältesten des Unlands vom Imperator die Beendigung der Tributpflicht erbeten und dafür dem Imperium ihre ewigen Dienste als Verbündete und Vermittler zwischen den Wüstensöhnen und dem Imperium angeboten." Er atmete durch. „Der Imperator und seine Ratgeber aber haben die Ältesten verlacht und wie Hunde vom Hofe verjagt. 'Geht!' hat der Imperator ihnen zugerufen, 'Wir, die Auserwählten des Herrn, schließen keine Verträge mit den Abkömmlingen von Affen und Ziegen!'" Er fixierte jetzt das Gericht mit Blicken. „Ich, KeYNamM wie ich genannt werde, sage euch: Jetzt, da keine Gefahr an der Ostgrenze des Imperiums besteht, sind die Tributforderungen nur noch ein willkürlicher Raub! Raub aber ist selbst im Imperium ein Verbrechen!"
Der Staatsanwalt lauschte den Argumenten des Mannes konzentriert. Dann atmete er durch. „Die Ältesten des Unlands und das Imperium vertreten in dieser Frage gegensätzliche Auffassungen. Fest steht jedoch, dass Abkommen nur im gegenseitigen Einvernehmen verändert werden können. Ich räume ein, dass die Verhandlungen bisher nicht weitergekommen sind! Das gibt dir aber nicht das Recht, das Eintreiben des Tributs zu verhindern."
KeYNamM merkte, dass der Staatsanwalt diese Auslegung der Sachlage nur mit Bedauern vertrat und war daher überrascht, als er fortfuhr. „Im Namen des Imperators klage ich dich, KeYNamM, an, während der letzten Jahre das Eintreiben der Tributforderungen verhindert zu haben." Dann wandte er sich an den Schreiber und befahl „Trage die einzelnen Verbrechen dieses Mannes vor!"
Der Amestan jedoch kam dem Schreiber zuvor. „Das ist nicht notwendig! Ich, KeYNamM, bekenne mich stolz zu den Taten, wie sie durch die Polizei und die Soldaten ermittelt wurden! Denn waren es nicht Taten für mein Volk?"
Das Gesicht des Gouverneurs, der bisher fast teilnahmslos zugehört hatte, lief bei den letzten Worten rot an. Er fuhr hoch und deutete mit ausgestrecktem Finger auf den Mann, „Du!" brüllte er, „Du! Hast du vergessen, dass du vor einem Gericht des Imperators stehst? Du!" Sogar der Stadthauptmann, der dem Vortrag des Anklägers regungslos zugehört hatte, zeigte seinen Unmut und schüttelte den Kopf. „KeYNamM!", zischte er, „willst du dich um Kopf und Kragen reden!"
Dem Ankläger aber wurde nun bewusst, dass jede weitere Diskussion dem Angeklagten nur schaden konnte. Er trug daher sein Fazit vor. „Du KeYNamM bist uneinsichtig! Das Gesetz des Imperiums ist aber für alle geschaffen, Reumütige und Uneinsichtige!" Der Ankläger atmete durch um sich selbst Mut zu machen, denn er wusste, was er jetzt sagte, würde den Gouverneur und die Beisitzer aufs Stärkste verärgern. „Für deine Taten hast du fast ein Jahr im Straflager gebüßt. Dann hast du jedoch den Mut gehabt, alles auf eine Karte zu setzen. Du hast den Kampf auf der Himmelsleiter gewählt! Du hast gesiegt! Daher verlieren diese Anschuldigungen ihren Wert. Deine Schuld ist gelöscht!" Er zögerte nur einen Moment, dann sprach er mit Nachdruck. „Nach dem Gesetz des Imperiums bleibt dem Gouverneur und dem Gericht keine andere Möglichkeit, als dich freizugeben! Geh jetzt!"
„Geh jetzt! Geh jetzt! Seit wann entscheidet der Ankläger den Prozess!" Es sah aus, als wollte der Gouverneur den Ankläger in Fetzen reißen. Doch dann kam ihm ein Gedanke. „Deine Anklage, Anfänger, war unvollständig! Du hast sein schwerstes Verbrechen vergessen!" Er rang nach Luft! Dann brüllte er: „Schreiber! Das Buch!" Hastig blätterte er darin! Dann schüttelte er die Kladde und brüllte den Stadthauptmann an! „Hier fehlt das Hauptverbrechen! Stadthauptmann! Warum ist der Mord an vier Soldaten unseres Imperators nicht darin verzeichnet? Er!", dabei deutete er mit ausgestreckte Hand auf KeYNamM, „Er, der König vom Unland, hat drei unserer besten Soldaten die Kehle feige im Schlaf durchschnitten! Den vierten hat er im Moor verschwinden lassen!" Voll Wut wandte er sich erneut dem Stadthauptmann zu. „Sag Hauptmann, warum ist dieses Majestätsverbrechen nicht in deinem Buch verzeichnet!"
Der Hauptmann hatte den Prozess mit runzelnder Stirn verfolgt, da er das Verhalten des Gouverneurs eines Dieners des Imperiums unwürdig fand! Nicht, dass er Sympathien für den Angeklagten hegte, nein! Zwar verstand er dessen Argumente in gewissem Grade, aber Auflehnung gegen die Gesetze des Imperiums war ein Verbrechen und in seiner Verantwortung lag es Verbrechen zu verhindern, zu verfolgen und die Täter dem Gericht zu überstellen. Der Vorwurf des Gouverneurs traf ihn tief, zog dieser doch seine Integrität in Zweifel.
Er überlegte nur kurz. „Schreiber, nimm die Akte unerledigte Fälle zur Hand!" Dann schoss er zurück. „Hoher Gouverneur erinnern sie sich, wann diese grässlichen Morde geschehen sind? Nein!" und er fixierte den wütenden Mann. „Hier ist der genaue Zeitpunkt der Auffindung der Ermordeten verzeichnet! Schreiber lies!" Als dieser die Akte aufblätterte und dann mit rotem Kopf herumzudrucksen begann, entriss er sie ihm und las selbst. „Hier steht! Die drei Leichen wurden mit durchgeschnittener Kehle im 4. Zeltlager am Draa gefunden. Eine vierte Leiche wurde nicht gefunden. Die Waffen der Drei befanden sich samt und sonder im Lager und ihre drei Pferde weideten auf der Koppel. Das vierte Pferd war ebenso wie der vierte Soldat verschwunden. Auch die Wertsachen der drei Ermordeten fehlten. Als Zeitpunkt der Entdeckung des Verbrechens wird der Morgen des 16. Tages des fünften Monats angegeben. Da die Leichen sonst unversehrt waren, d.h. weder von Hunden noch von Wildtieren angefressen, waren die Morde erst kurz zuvor, wahrscheinlich in der Nacht, geschehen!"
„Und?" herrschte ihn der Gouverneur an, „Und? Spricht das gegen den König vom Unland als Mörder?"
„Das nicht, aber der Zeitpunkt! Der König vom Unland war seit Mitte des letzten Jahres bis gestern Nacht im Straflager an der Kristallmine und die letzte Nacht verbrachte er hier im Gefängnis!" und dann setzte der Stadthauptmann hinzu. „Das Straflager hat er zu keinem Zeitpunkt verlasen, das steht fest! Die Morde aber geschahen erst vor drei Monaten!"
„Und weiter?", tobte der Gouverneur. „Die Morde entsprechen der Gesinnung dieses Feindes des Imperiums! Ihn freizulassen, stellt eine Gefahr für das Imperium dar. Er! Er gefährdet die Ordnung des Imperiums, dieser …" Dabei deutete er mit ausgestreckter Rechter auf KeYNamM, den Beschützer des Unlands.
In diesem Moment begann auf der Stützmauer, die den Garten zum Berg hin begrenzte, ein großer Tontopf mit vertrockneten Blumen gefährlich zu wackeln. Er verlor seinen Halt und stürzte im hohen Bogen herunter in den Garten, dem tobenden Gouverneur direkt auf die rechte Schulter. Der schwere Topf warf den schweren Mann nach vorn. Er fiel mit dem Gesicht auf die Tafel. Ein zweiter, kleinerer Topf folgte und traf seinen Kopf hinter dem linken Ohr. Gouverneur Gwasila schrie gequält auf. Ein dritter Topf verfehlte seinen Kopf nur knapp, schlug auf die Tafel auf, zerschellte und verstreute seinen ausgetrockneten Inhalt auf der Tischplatte.
Die Teilnehmer an der Gerichtssitzung brauchten einen Moment bevor sie den Vorgang erfassten. Dann waren es die beiden Wächter, die als Erste dem Gouverneurs zu Hilfe eilten. Sie versuchten ihn aufzurichten, was jedoch erst gelang, als der Ankläger und der Zuhälter den Leblosen packten, hochzogen und in seinen Sessel setzten.
Auf das Geschrei der Anwesenden hin stürzten die beiden Dienerinnen aus dem Haus. Aufgeregt bemühten sie sich um ihren Herren, wussten jedoch nicht was zu tun sei. Erst auf den Befehl des Karawanenbetreibers holten sie feuchte Tücher, um mit diesen den benommenen Gouverneur zu erfrischen und so zum Leben zurückzurufen. Sobald dieser aber seine Benommenheit auch nur halbwegs abgeschüttelt hatte, begann er zu fluchen und zubrüllen.
Der Stadthauptmann bemühte sich nicht um den Verletzten, sondern war ganz in seinem Element als Ermittler und versuchte sofort herauszufinden, warum die Töpfe so plötzlich von der Mauer herabgestürzt waren. Von seinem Platz aus konnte er niemanden entdecken, der sich hinter den Blumentöpfen auf der Mauerkrone versteckt gehalten hätte. Seine Erfahrung sagte ihm jedoch, dass sich so schwere Töpfe nicht von alleine aus ihrer Verankerung lösen könnten. Irgendjemand musste sie von der Mauer gestoßen haben. Aber wer? Wer war für das Attentat verantwortlich? Er schüttelte gedankenverloren den Kopf, stand dann auf, um oben nach Spuren eines möglichen Attentäters zu suchen.