Im dem Augenblick, als der Gouverneur mit dem Kopf auf der Tafel aufschlug und die Wächter ihm zu Hilfe eilten, sprang KeYNamM auf und nutzte die momentane Verwirrung zur Flucht. Mit einem Satz sprang er über die Gartenmauer in die Gasse hinunter und rannte den Weg bergauf, hinaus aus der Stadt. Er wusste instinktiv, dass dies seine einzige Möglichkeit war, dem Gouverneur und dessen Hass zu entkommen. Kaum war er zwanzig Schritte den steilen Pfad hinaufgehetzt, als ihn eine Kinderstimme anrief. „Baba, Baba, KeYNamM! Du, KeYNamM-baba, schnell hier her! Hier bin ich!"
Ein Junge in ausgefranstem Hemd sprang aus den Büschen am Ende des Gartens und zog ihn zu dem schmalen Pfad, der verdeckt von Gestrüpp an der Gartenmauer entlang hinauf auf einen Ausläufer des Stadtberges führte. Es war eigentlich kein Pfad, sondern nur eine steile Rinne, die der Winterregen ausgewaschen hatte. Der Junge kraxelte sie so schnell auf allen Vieren hinauf, dass ihm KeYNamM nicht folgen konnte, da er immer wieder auf den losen Kieseln ausrutschte. Auf halbem Wege kam ihnen ein größerer Junge entgegen und half ihm hinaufzukriechen.
Von hier oben, auf dem Ausläufer des Stadtberges, waren von den Häusern in der Gasse, die alle mit ihrer Rückwand gegen die Felswand gebaut waren, nur die Dächer und Dachterrassen zusehen. Bei einem waren Umbaumaßnahmen im Gange, die jetzt gegen Abend ruhten. Es stand leer. Auf der Dachterrasse, zu der eine schmale Planke führte, war Baumaterial aufgestapelt. Der größere Junge schob KeYNamM über eine Planke auf die Terrasse und zog diese dann weg. Auf der Terrasse versteckten sie sich hinter Baumaterial und Gerümpel.
Erst jetzt, geduckt hinter dem Gerümpel, kam KeYNamM zu Atem und erkannte die beiden Jungen sofort wieder. Es waren die Brüder aus der Brunnenkammer. „Ikken? Aylal?", fragte er, um sicher zu gehen. „Ikken und Aylal, die aus der Brunnenkammer?" Dann, nach kurzem Zögern, fuhr er erstaunt fort. „Warum helft ihr mir? Warum helft ihr mir zu entkommen? Ich bin ein Fremder! Ihr kennt mich doch gar nicht!"
Anstatt einer Antwort legte Ikken den Zeigefinger auf den Mund und hauchte „Still, still" und Aylal piepste „KeYNamM-baba, still, still!"
Eng aneinandergedrückt, lauschten sie auf die Kommandos und das Fußgetrampel der Suchtrupps, die die Gasse vor der Villa herauf und herunter hasteten, erschraken jedes mal, wenn jemand an der verschlossenen Türe des leerstehenden Hauses rüttelte und warteten darauf, dass sie aufgebrochen würde. Aber niemand brach sie auf und drang ins Haus. Kein Stadtwächter suchte den Bergrücken hinter den Häusern oder die Dachterrassen ab, nur der Stadthauptmann, der den Trampelpfad neben der Stützmauer hochgeklettert kam. Aber auch er entdeckte ihr Versteck nicht.
Als das Abendlicht endlich der mondlosen Nacht gewichen war, wagten sich die Drei aus dem Versteck. Aylal war inzwischen eingeschlafen. KeYNamM nahm ihn daher wie ein Wickelkind auf den Arm und folgte Ikken auf einem sandigen Pfad quer über den Bergrücken zu einer schmalen Straße, die hinab in die Stadt führte.
Die schmalen verwinkelten Gassen von Tinghir waren um diese Zeit menschenleer. Trotzdem spähte Ikken an Straßenkreuzungen um die Ecken und gab ein Zeichen, wenn niemand zu sehen war. Sie hatten Glück. Nur zweimal mussten sie sich in dunklen Hauseingängen vor nächtlichen Spaziergängern verstecken.
Vom Tragen Aylal's wurden KeYNamM die Arme bald schwer und als er aufwachte, nahm er ihn huckepack. Erst jetzt erinnerte er sich an das grüne Pentagramm im roten Dreieck auf dem Rücken seines Hemdes, das ihn als Eigentum des Imperators verraten hätte. Er war daher erleichtert, dass das verräterische Zeichen jetzt vom schmalen Körper Aylal's verdeckt wurde.
KeYNamM kam der Weg durch die dunklen Gassen unendlich lang vor, wie immer, wenn er einen Weg zum ersten Mal ging. Endlich, endlich, als er es schon fast nicht erwartete hatte, sagte Ikken: „Wir sind gleich da. Wir müssen nur noch durch den Soukh."
KeYNamM kannte die Stadt von früheren Besuchen, aber jetzt im Dunkeln hätte er nie zum Soukh gefunden. Ikken jedoch huschte wie eine Katze durch die Nacht und bald erreichten sie den ausgestorben daliegenden Markt. Ikken führte ihn durch die schmalen Gassen zwischen den Marktständen bis zur Stadtmauer, wo die kleinsten und ältesten Stände sich mit ihrer Rückseite an die dicke Lehmmauer anschmiegten. Hier schlüpfte Ikken in eine enge Lücke zwischen zwei schiefen Hütten, schob eine Planke von der Seitenwand der einen beiseite und schob KeYNamM, der Aylal immer noch auf dem Rücken trug, in die stockdunkle Hütte.
Drinnen roch es nach getrockneten Kräutern, Gewürzen und Trockenfrüchten. Ikken kramte im Dunkeln herum, fand was er suchte, zündete eine kleine Öllampe an und leuchtete damit auf eine quadratische Öffnung in der Wand hinter einem Regal. „Hier hinein!", bedeutete er KeYNamM. „Das ist unser Unterschlupf!"
Dahinter befand sich ein Hohlraum in der Stadtmauer aus Lehm. Er war kaum mannshoch und nur wenige Schritte tief. Diese Höhle war seit langem die Bleibe von Ikken und Aylal. Hier war ihr Schlafplatz, hier hingen die wenigen Habseligkeiten die sie besaßen an der Wand oder lagen in der kleinen Truhe am Fuß des Schlafplatzes.
Aylal wachte nicht auf, als ihn KeYNamM auf die Decken des Schlafplatzes legte. Er rührte sich zwar, gähnte kurz, schlief jedoch sofort weiter. „Ich gehe noch Wasser besorgen und hole etwas Essen", wisperte Ikken KeYNamM zu. „Warte! Ruh dich aus und verhalte dich ruhig. Ich weiß noch nicht, wie lange ich wegbleibe. Bitte versuche nicht mich zu suchen oder wegzulaufen. Ich komme schon zurück!"
Ikken blieb sehr lange weg. Als KeYNamM es vor Durst fast nicht mehr aushielt, traf der Junge endlich wieder in ihrem Versteck ein. „Wir müssen weg! Ganz schnell! Sie suchen die gesamte Stadt nach dir und deinen Helfern ab. Sie nehmen an, es waren zwei Jungen, ein größerer und ein kleinerer, wissen aber nicht wer sie sind. Sie klopfen an alle Häuser und fragen nach den dreien. Bald werden sie auch auf dem Soukh auftauchen. Sie wissen noch nicht, dass Aylal und ich es waren, die dir geholfen haben. Aber das finden sie bald heraus! Wir verlassen die Stadt, sofort."
KeYNamM wollte schon aus dem Unterschlupf in den Marktstand steigen, aber Ikken ihn zurückhielt. „Nicht durch die Stadt, hier raus!" Er schob einige Bretter auf der Rückwand der Unterkunft zur Seite. „Hier durch! Auf dem Bauch! Nimm den Wasserschlauch mit. Auf der anderen Seite musst du die Reisigbündel wegstoßen und schon bist du im Freien."
Auf dem Bauch liegend hatte KeYNamM Mühe, die verkeilten Reisigbündel wegzuschieben, die den Ausgang des Durchschlupfs tarnten. Als er sich endlich in der sternklaren Nacht vor der Stadtmauer aufrichten konnte, bemerkte er, dass sein Hemd vor Aufregung durchgeschwitzt war. Als nächstes kam Aylal, den Ikken wachgerüttelt hatte und dann Ikken selbst mit einem Ledersack voller Lebensmittel. Ikken übernahm den Befehl und duldete keine Pause. „Nimm den Wasserschlauch auf die Schulter und Aylal an die Hand", befahl er KeYNamM. „Ich tarne den Ausgang des Durchschlupfs noch mit Reisig und komme dann nach." Er deutete nach Osten, wo die Sonne gerade aufging. „Siehst du dort die Straße, sie führt ins Grenzland!"