Noch am Abend des gleichen Tages bogen die Flüchtenden unter KeYNamM's Führung in den Pfad ein, der zur Quelle der Meryem führte. Die Sonne war am Untergehen, alle waren übermüdet, der Amestan selbst, Ochuko, der Schmuggler, Ikken und sogar Amaynu, der auf dem Esel saß und den eingenickten Aylal vor sich im Sattel festhielt. Dort wo die ersten Felsen des Gebirgsmassiv zwischen dichten Büschen aus dem Sand aufragten, tauchten plötzlich Gestalten in weiten Überkleidern lautlos wie Geister im Dämmerlicht auf. Weder KeYNamM noch einer der Anderen konnte auf ihr Auftauchen rechtzeitig reagieren.
Eine der Gestalten packte den Esel am Zügel, eine Z weite zerrte Amaynu vom Reittier und die Dritte bog ihm die Arme auf den Rücken und fesselte ihn. Andere stürzten auf KeYNamM und Ochuko und warfen sie zu Boden. Als einer Ikken packen wollte, hechtete der vorwärts. Er wollte zwischen den Beinen des Geistes durchtauchen, verfing sich jedoch in dem langem Überkleid des Mannes und landete mit dem Kopf voraus im Sand.
Der Anführer der Gruppe klappte eine Blendlaterne auf und leuchtete Amaynu ins Gesicht, den er für den Anführer hielt. Da schrie der Mann, der den Goldschmied festhielt, überrascht auf, „Bruder, Bruder, Amaynu, mein Bruder!" und begann Amaynu zu herzen und zu küssen. „Amaynu mein Bruder, Amaynu mein lieber großer Bruder!", rief er ein ums andere Mal. „Ich bin es, Wiwul dein Kleiner, dein kleiner Bruder! Wie hab ich dich vermisst, alle haben dich vermisst, Mutter und Vater, deine Schwestern und Brüder! Alle haben dich vermisst!"
Amaynu brauchte einen Augenblick um sich zu fangen. „Endlich, Wiwul, endlich sehe ich dich wieder!" Dann drehte er sich zum Anführer, „Lass die beiden sofort los. Das ist KeYNamM, der Amestan, der König vom Unland, und mein Freund Ochuko, und der ...", er deutete auf Ikken, den einer der Wüstensöhne in den Sand drückte, „… das ist der Sohn König Gaya's, sein Nachfolger. Lass ihn los oder willst du deinen Herrscher erzürnen!" Nun suchten des Goldschmieds Augen nach Aylal. Der jedoch hatte das Durcheinander genutzt und war in der Dunkelheit verschwunden. „Wo ist Aylal?", rief er aufgeregt. „KeYNamM, Aylal ist verschwunden! Er wird sich im Dunkeln verirren!"
Inzwischen hatte der Anführer der Grenzpatrouille KeYNamM aufgeholfen. Er verbeugte sich förmlich vor dem König vom Unland, „Verzeiht hoher Herr, Freund unseres Anführers Tarit! Ich wurde ausgesandt, um den Pfad zu Meryem's Quelle zu bewachen und Euch zu begrüßen! Ich bin vom Herzen betrübt, dass ich Euch so empfangen habe! Könnt Ihr mir verzeihen! Ich bitte Euch demütig!" Der Amestan hörte aber nicht zu, er sorgte sich um Aylal! „Später, später! Wir müssen Aylal finden." Dann rief er in die Nacht, „ Aylal, Aylal, wo bist du mein Sohn! Vögelchen wo bist du? Das sind Freunde! Keine Angst!" Sie brauchten nicht lange zu warten, bis Aylal aus dem Dunkeln auftauchte, auf KeYNamM zustürzte und fürs Erste nicht mehr von dessen Seite wich.
Der Anführer der Patrouille stieß einen lauten Pfiff aus und alsbald kam ein weiterer Mann mit Pferden aus dem Dunkel. Der Jüngste der Wüstenreiter brachte die müden Reiter zur Quelle, während sich der Anführer mit den Grenzposten wieder versteckte um ungebetene Reisende abzufangen, die zur Quelle der Meryem wollten.
Am nächsten Morgen wurde KeYNamM durch eine sanfte Berührung aufgeweckt. Noch halb im Schlaf öffnete er die Augen und blickte in ein Paar dunkler Augen, „Tarit! Bruder! Tarit!", rief er glücklich, sprang auf und die beiden Männer umarmten sich.
Tarit war glücklich. Endlich, endlich sah er seinen KeYNamM wieder. Das erste was er stolz sagte, war, „Das halbe Imperium erzählt sich von dem Brand im Straflager und dem Ausbruch der Gefangenen! Keiner kann sich erklären, wie der entstanden ist", lachte er. „Und die andere Hälfte des Imperiums erzählt sich schadenfroh von dem Überfall auf den Kristalltransport! Weißt du noch was mir unsere Spione erzählen?" Er wartete bis KeYNamM sich ungeduldig räusperte, „Das wird dich freuen Bruder! Der Gouverneur wollte zum Imperator in die Hauptstadt, sich zu rechtfertigen! Aber der verstarb plötzlich! Die Menschen sagen, zwei schwarze Bestien haben ihm den Garaus gemacht! Gouverneur Gwasila ist jetzt verzweifelt! Er ist so verzweifelt, dass er jetzt plant, eine Strafexpedition gegen uns Wüstensöhne auf eigene Faust zu unternehmen. Er will nicht warteten bis der alte Imperator begraben und der neue Imperator inthronisiert ist. Er will sein Versagen gutmachen und den neuen Imperator damit überraschen, dass er die Wüstensöhne unterwirft und die Kristalle zurückholt."
„Ennand hat mir schon erzählt, dass der Gouverneur Soldaten anheuert! Deswegen bin ich ja auch hier und nicht nur wegen deiner schönen Augen!", lachte KeYNamM und boxte Tarit vergnügt in die Seite. „Aber sag, ist der Imperator wirklich gestorben? Wer wird sein Nachfolger? Vielleicht einer, dem etwas am Frieden zwischen uns vom Draa und dem Imperium liegt und zwischen dem Imperium und den Wüstensöhnen?"
„Wir können nicht warten, dass sich deine Hoffnung erfüllt, nein! Der Amenokal hat sofort alle Klans unterrichtet und glaub mir, keiner der Klans hat Sehnsucht Untertan des Imperators zu werden!" Tarit zögerte einen Augenblick, „Und du König vom Unland, wo stehst du? Hilfst du mir die Truppe des Gouverneurs würdig zu empfangen?"
„Warum fragst du? Darum bin ich doch auch hier! Ich habe zwar keine Truppen, aber Ikken und Aylal wiegen ein ganzes Heer auf!"
„Jetzt übertreibst du!" Dann zögerte Tarit, „Ikken akzeptiert ich als Unterstützung. Schließlich wird inzwischen in allen Zelten erzählt, dass dein Sohn einmal ein großer Führer wird!", dabei glitt sein Blick hinüber zu Ikken, der noch friedlich schlief. „Für Aylal habe ich jedoch eine andere Aufgabe, eine, die besser zu seinem Alter passt! Er soll Tamimt bewachen, meine jungfräuliche Tamimt."
Seit seiner Ernennung zum Befehlshaber des Expeditionskorps hatte Areksim, der alte Luchs, versucht, alles was mit dem Feldzug zusammenhing, vor den Spionen des Imperators, vor den Informanten der Wüstensöhne und vor der Öffentlichkeit geheimzuhalten. Das war nicht einfach gewesen und wäre ohne Udad und seine eingespielte Kapo nicht gelungen. Trotzdem hatte die Anwerbung der Söldner, das Zusammenkaufen der Ausrüstung, der Reit- und Transporttiere mehr Aufsehen erregt, als gut war. Zwar drang das Ziel des Feldzuges nicht an die Öffentlichkeit, aber jeder der Zwei und Zwei zusammenzählen konnte, ging davon aus, dass die geraubten Kristalle wiederbeschafft werden und dass vor allem der Unbekannte oder die Unbekannten, die den Gefangenen des Straflagers die Flucht verholfen hatten, gefangen und bestraft werden sollten. In den Kneipen war man sich sicher, dass die Wüstensöhne den Raub begannen hatten. Aber wer hatte die Gefangenen befreit? Der Feldzug würde sich also auf jeden Fall gegen den Amenokal und die Wüstensöhne richten. Niemand jedoch rechnete damit, dass er so schnell beginnen würde. Auf einen raschen Beginn wies nur die Tatsache hin, dass die als Söldner angeworbenen Teilnehmer urplötzlich von der Bildfläche verschwanden.
Als Ausbildungszentrum hatte Areksim bewusst eine abgelegene, verlassene Wohnburg, ein Tighremt, nicht weit entfernt von Tinghir gewählt. Jetzt saß er auf seinem Rappen vor dem Tor der baufälligen Festung und kontrollierte den Auszug seiner Truppe. Udad, der flüchtige Kapo des Straflagers, jetzt sein erster Adjutant und Leutnant, ritt mit zwei seiner Vertrauten aufgeregt an der Kolonne auf und ab und versuchte mit Schimpfen und Schlägen Ordnung in die Formation zu bringen.
Immer zwölf Männer bildeten eine Kampfgruppe. Die Männer der ersten beiden Gruppen, alles alt gediente Söldner, hielten die vorgeschriebene Reitordnung exakt ein. Sie trugen ihre Waffen, einen kurzen Bogen, Pfeile und Lanze, vorschriftsmäßig und hatten die Tasche mit der übrigen Ausrüstung fest am Sattel befestigt. Den vollen Wassersack sowie einen Vorrat an Futter hatten sie über die Kruppe ihres Reittiers gelegt.
Schon die dritte Zwölfergruppe, zusammengestellt aus erfahrenen Söldner und geflüchteten Strafgefangenen, forderte die Kritik des Befehlshabers heraus. Wütend befahl er Udad die Gruppe zur Ordnung zu rufen. Beim Anblick der anderen fünf Zwölfergruppen, alles frisch Angeheuerte, richtete Areksim die Augen verzweifelt zum Himmel. Die kurze Ausbildungsdauer hatte die jungen Männer aus der Stadt und dem Umland nicht in Soldaten verwandeln können. Alle konnte zwar einigermaßen gut reiten, trotzdem saßen die meisten von ihnen recht unsoldatisch im Sattel, hielten die Lanze wie eine Heugabel, trugen den Köcher mit dem Bogen und den Pfeilen viel zu weit unten auf dem Rücken und hatten sowohl den Futtersack als auch den Wassersack nur schlampig auf der Pferdekruppe befestigt.
Areksim war wütend und enttäuscht gleichzeitig. Wütend war er auf sich selbst, weil er sich das Kommando über eine Truppe hatte aufdrängen lassen, die fast vollständig aus Anfängern bestand. Enttäuscht war er, dass es ihm nicht gelungen war, ihren Ausbildungsstandard in der kurzen Zeit so zu verbessern, dass sie kampffähig wären. Ihm war klar, dass der Feldzug in einem Chaos enden würde, wenn es allein nach dem Ausbildungsstand seiner Truppe ging. Es bräuchte ein Wunder, wenn er mit dieser Truppe einen Krieg gegen die Wüstensöhne gewinnen wollte und Areksim glaubte nicht an Wunder. Er hatte den Gouverneur auf Knien gebeten von dem Vorhaben abzulassen, konnte ihn aber nicht überzeugen. Der hatte nur geflucht und angedroht ihm ins Straflager zu stecken, wenn er nicht gehorchte. Ein Lichtblick war die Versorgungsgruppe. Diese Männer hatten samt und sonder schon in seinen früheren Feldzügen gedient und waren zuverlässig.
Areksim's Truppe verließ das alte Fort im schnellen Trab und überschritt bald die Grenze zum Grenzland. Das Expeditionskorps hetzte vorwärts, denn Areksim hatte angeordnet, dass es noch vor Einbruch der Nacht den Rastplatz am Draa erreichen musste. Der Aufbruch von diesem Rastplatz war für die frühen Morgenstunden geplant, damit das erste Ziel in der Wüste, die Quelle der Meryem, noch bei Tageslicht erreicht werden konnte. Der Vormarsch im Feindesland musste unauffällig und sehr schnell erfolgen, denn der alte Luchs Areksim wusste, dass seine unerfahrene Truppe nur mit einem Überraschungsangriff die Wüstensöhne besiegen und die befestigte Kasbah des Amenokal einnehmen konnte.
Sobald Tarit durch seine Spione von den Angriffsplänen des Gouverneurs erfahren hatte, unterrichtete er den Amenokal und die Oberhäupter der Ksars, der befestigten Dörfer, in Grenznähe. Er hatte keine Mühe, seine Truppe aus kampferfahrenen Grenzern mit mutigen Freiwilligen zu ergänzen. Zwar war seine Truppe immer noch weit schwächer als das Expeditionskorps des Gouverneurs, aber ihr Vorteil war, dass alle Männer ortskundig, an Strapazen gewöhnt und genügsam waren. Seine Truppe war daher für einen Kampf in der Wüste weit besser geeignet, als eine Söldnertruppe aus vorwiegend unerfahrenen Neulingen. Ein weiterer Pluspunkt war, dass seine Männer ihre Heimat, ihre Familien, ihre Lebensweise bis zur Erschöpfung verteidigen würden und nicht wie die Söldner des Gouverneurs allein für Geld kämpfen würden.
Tarit, der die Wüste von Jugend auf kannte, hatte sich für die Stechmückenstrategie entschieden: unverhofft zustechen, dem Gegner Schaden zufügen und abschwirren, noch bevor das Opfer zurückschlagen konnte. Zu diesem Zweck hatte er seine Gruppe aufgeteilt. Mit seiner Hälfte versteckte er sich auf dem Plateau oberhalb der Quelle der Meryem, die andere Hälfte schickte er schon am frühen Abend auf die andere Seite des Wadi, wo sie auf dem gegenüberliegenden Plateau auf seinen Einsatzbefehl warten sollten. Diese Gruppe führte Yufayyur, der Bruder seiner drei Frauen, und Lieblingsschwager. Yufayyur war für einen Sechzehnjährigen nicht nur außerordentlich klug und mutig, sondern auch so schön, dass er den Namen Yufayyur „Schöner als der Mond" mit Recht trug.