Udad und seine Kumpane lagen gefesselt auf dem staubigen Boden im stockdunklen Untergeschoss der verlassenen Kasbah. Sie lagen auf dem Bauch mit dem Gesicht nach unten und mussten mit der heißen und trockenen Luft den Staub einatmen, der sich in vergangenen Jahrzehnten auf dem Boden angesammelt hatte. Mit jedem ihrer Atemzüge wirbelte der feine Staub auf, der den Gefesselten dann Nase und Lunge verstopfte.
In diesem Augenblick hasste Udad seine Kumpane. Für ihn waren sie Feiglinge, die zu nichts anderem in der Lage waren, als mit der Nase im Staub zu röcheln und ihr Schicksal zu bejammern, anstatt sich Gedanken über eine Flucht zu machen. Er, Udad, dagegen überlegte kaltblütig wie er der todernsten Lage entkommen konnte. Und er sann auf Rache!
Der ehemalige Oberkapo der Kristallmine hatte schon zu Beginn seiner Verbrecherkarriere gelernt, dass Vorsorge besser als Nachsorge wäre. Auch jetzt hatte er ein Mittel parat, das ihm zur Flucht verhelfen konnte. Vorsichtig tastete er mit seinen freien Fingern den Saum am Ärmel seines weiten Gewands ab. Dort in einer Naht hatte er eine kleine Messerklinge versteckt. Die war nur so lang wie sein kleiner Finger, dünn wie Pergament, aber biegsam und scharf. Er wusste, wenn er sie erst herausgezogen hatte, wäre es für ihn leicht die Fesseln nach und nach durchzutrennen und erst die Arme dann die Beine freizubekommen.
Während seine Kumpane stöhnten und fluchten, konzentrierte er sich ganz auf diese Arbeit. Er zerrte mit seinen freien Fingern am Stoff bis er die Klinge fühlen konnte. Dann scheuerte er den Stoff solange über ihre Schneide, bis der aufriss und er die Klinge mit zwei Fingern fassen konnte. Noch längere Zeit benötigte er, um den groben Strick um das linke Handgelenk durchzuschaben. Als das endlich geschafft war, riss und zerrte er solange an den Fesseln, bis er erst die eine Hand, dann die andere Hand freibekommen konnte.
Udad triumphierte! Leise setze er sich auf, dehnte sich und überdachte die Möglichkeiten, die sich ihm boten. Sollte er sich allein davon machen? Sollte er die anderen losschneiden und mit ihnen zusammen fliehen? Verdient hatten sie es nicht! Er entschied sich trotzdem für die zweite Möglichkeit, da seine Kumpane bestimmt die Wachen alarmieren würden, wenn er sie im Stich gelassen hätte. Er kannte diese Gauner schließlich gut genug. Außerdem würde es einer Gruppe leichter gelingen zu flüchten und durch die Wüste bis nach Tinghir durchzukommen.
Er schnitt also einen seiner Kumpane nach dem anderen los. Dann befahl er ihnen die Seitenwände des Raums nach einem Ausgang abzutasten. Er selbst entschied sich für die Rückwand, da er in ihr den Durchgang zu den hinteren Räumen der Kasbah vermutete.
Weder an der linken noch der rechten Seitenwand war auch nur die kleinste Öffnung zu finden und der Durchgang an der Rückwand, den er schnell entdeckt hatte, war durch die herabgebrochene Decke verschüttet. Er kletterte auf den Schuttberg und hatte Glück. Er fand eine Lücke in der Zimmerdecke, zwängte sich nach oben durch und stand schon in dem darüberliegenden Raum.
Seine Kumpane kamen nach. Mit ihrer Hilfe kletterten sie durch ein enges Loch in der Rückwand in den dahinterliegenden Raum. Von dort aus tasteten sie sich durch ein Labyrinth von kleinen dunklen Kammern zur Rückseite der Wohnburg und standen plötzlich im Freien.
Was Udad nicht ahnte war, dass kurz zuvor die Imuhaghzwillinge an der Rückseite der Wohnburg eingetroffen waren. Sie lauerten noch im Dunkeln, als sie das Geräusch rutschender Steine, die die Fünf beim Verlassen der Wohnburg lostraten, sowie die geflüsterten Kommandos von Udad alarmierten. Regungslos beobachteten sie, wie die Flüchtenden einen Pfad einschlugen, der an der Steilwand des Talkessels entlang zum Ausgang in den Wadi führte. Sofort war den Brüder klar, dass es wichtig war, die Flucht Udad's und seiner Kumpane zu verhindern. Sie warteten bis die Dunkelheit die Fünf verschlungen hatte, tasteten sich dann durch die dunklen Kammern zur Vorderseite der Wohnburg und begannen Steine aus der Fensterluke eines Raumes auf die Wachen zu werfen, der sich im Stockwerk über Udad's ehemaligem Gefängnis befand. Als die Wachen nicht sofort alarmiert waren, versuchten sie mit halblauten Rufen deren Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Das hatte Erfolg. Die Wachen brachen die Tür zum Raum auf, in dem sie die Gefangenen gesperrt hatten. Als sie diese dort nicht fanden, alarmierte einer von ihnen den Feldhauptmann. Areksim ließ sofort Suchtrupps ausschwärmen, die den Talkessel durchsuchten und dessen Ausgang besetzten. Dort am Ausgang zum Wadi konnten die fünf Flüchtenden abgefangen und trotz heftiger Gegenwehr festgenommen werden.
Sobald die Jagd nach den Entflohenen begonnen hatte, verließen die Imuhaghzwillinge ihr Versteck in der Kasbah. Sie versuchten jedoch nicht zu Tarit und dem Amestan zurückzukehren, sondern schlichen dorthin, wo sie Areksim und sein Adjutanten vermuteten.
Im Talkessel war es so düster, dass die Zwillingsbrüder davon ausgehen konnten, dass sie von den Wachen nicht als Imuhagh erkannt werden würden. Und wirklich! Sie hatten Glück. Unbemerkt erreichten sie das Gestrüpp, dass um das Lager Areksim's wuchs und konnten von dort beobachten, dass drei gefesselte Gestalten zur Mitte des Lagers gebracht, besser geschleift, wurden. Zwei der Ex-Kapo schienen also entkommen oder getötet worden zu sein. Als einer der drei hinfiel, zerrten ihn die Soldaten einfach weiter durch den Sand und warfen ihn vor Areksim zu Boden.
Das kleine Feuer, das in der Mitte des Lagers brannte, loderte plötzlich auf und beleuchtete Feldhauptmann Areksim. Er hatte sich vor den drei Gefangenen aufgebaut. Inzwischen hatte sich fast das gesamte Expeditionskorps um den Feldhauptmann und die Gefangenen geschart und verdeckte den Zwillingen teilweise die Sicht auf das folgende Geschehen. Da die Beiden die Sprache des Imperiums nur ungenügend verstanden, konnten sie die folgenden Ereignisse nur schlecht verfolgen.
Das nächste jedoch, was sie mitbekamen, ließ es ihnen eiskalt den Rücken herunterlaufen. Der Kreis um den Feldhauptmann vergrößerte sich plötzlich und zwei der Gefangenen mussten sich vor ihm hinknien. Dann winkte der Feldhauptmann zwei seiner Männer heran, die ohne zu zögern ihre Dolche zogen und den Gefangenen die Kehle durchschnitten. In der Stille die folgte, wandte sich Areksim dem dritten Gefangenen zu. Er hieß ihn aufstehen und ihm die Fesseln abnehmen.
Der eine der Zwillinge hatte diesen Dritten schon gesehen. „Es ist Udad!" flüsterte er seinem Bruder zu und fragte dann, „Was soll das?" Weder er noch sein Bruder verstanden, warum Feldhauptmann Areksim so handelte. „Will er seine Männer beeindrucken? Will er dadurch einer Meuterei vorbeugen?" Was dann geschah war noch seltsamer. Es folgte eine kurze, hitzige Auseinandersetzung, bei der Ex-Kapo Udad zunächst das große Wort führte. Er beschimpfte Areksim lauthals, beschuldigte ihn des Verrats am Imperator und dem Gouverneur. Soweit die beiden verstanden, war die Rede so angelegt, als würde Udad sie an die Truppe und nicht an den Feldhauptmann richten.
Areksim nahm das Benehmen Udad's zunächst ungerührt hin, begann dann aber eine längere Ansprache an seine Soldaten. Das war Areksim's Fehler. Er wurde unaufmerksam und plötzlich sprang Udad vor, drückte Areksim's Kopf mit einer Hand nach Hinten und trennte ihm mit der kleinen Klinge, die er in der anderen Hand hielt, die Halsschlagader durch. Das Durcheinander, das nun ausbrach, dauerte nur kurz. Dann lag Udad's Körper mit abgetrenntem Kopf neben dem sterbenden Feldhauptmann im Sand.
Der Tot ihres Anführers lähmte die Truppe des Gouverneurs nur einen Augenblick. Areksim's alte Kampfgefährten sammelten sich im Kreis um dessen toten Körper und nahmen sich an den Händen, als würden sie ihm ewige Treue schwören. Dann senkten sie die Köpfe und schienen ein Gebet zu murmeln. Nach kurzem Zögern holten sie die Fahne, die dem Expeditionskorps voraus geflattert war, und wickelten den Körper des Feldhauptmanns darin ein. Sechs seiner Getreuen nahmen das Bündel auf ihre Schultern und schlugen den Weg zur verfallenen Kasbah ein. Die übrigen Söldner folgten den Leichenträgern.
Die Imuhaghzwillinge wussten, dass bei der verfallenen Kasbah der alte Friedhof des Ksar der Jinns lag, ein kahles Feld mit hohen Haufen aus faustgroßen Steinen. Jeder Haufen beschützte die Gebeine der Verstorbenen einer Familie vor bösen Geistern. Sie gingen daher davon aus, dass die alten Kämpfer ein Grab anlegen wollten, in dem Areksim noch vor dem Morgengrauen bestattet würden.
Im Anschluss an das Begräbnis begannen die Teilnehmer an der Strafexpedition, besonders die jüngeren Söldner, hektisch die Ausrüstung und Vorräte zusammenzusammeln, zu Bündeln zu schnüren, Wasserschläuche zu füllen und alles auf die Reitpferde und Tragetiere zu laden. Gerade als die Sonne über den Rand des Talkessels kletterte, verließen die ersten Söldner fluchtartig das Ksar der Jinns, zunächst nur in Gruppen von vier oder fünf, bald aber in größeren Trupps. Die alten Kampfgefährten Areksim's verließen die Stätte der endgültigen Niederlage als Letzte und begaben sich als geschlossene Truppe auf den Rückweg zum Imperium. Dies beobachteten die Zwillinge, während sie zum Hohlweg zurück schlichen.
Tarit und KeYNamM waren unruhig geworden, als die Imuhaghzwillinge lange nicht zurückkehrten. Erst recht stieg ihre Sorge, als sie von ihren Beobachtungsposten oberhalb der Nordkasbah die Hektik im Lager des Expeditionskorps wahrnahmen ohne den Grund zu kennen. Sie berieten schon über einen Vorstoß zu Rettung der Zwillinge, als am Eingang des Hohlweges das ausgemachte Signal, der Gesang der Wüstenlerche, aufklang. Tarit antwortete mit dem Geschrei des Wüstenfalken und nach einigen Momenten tauchten die beiden unverletzt und in aufgekratzter Stimmung auf.
Tarit nahm ihren Bericht entgegen. „Damit ist also der große Feldzug des Gouverneurs gescheitert!", verkündete er anschließend seinen Grenzsoldaten und den Imuhagh, die sich ihm zur Verteidigung ihres Territoriums, der großen, wilden Wüste, freiwillig zur Verfügung gestellt hatten. „Wir haben gewonnen! Jetzt ruht euch aus meine Freunde und schöpft neue Kräfte. Nach einem Bad in der Quelle des Jnun's werden wir uns am frühen Nachmittag trennen. KeYNamM, der König vom Unland und ich werden mit den Grenztruppen die Flüchtenden bis zur Grenze des Imperiums verfolgen. Ihr jedoch, ihr kehrt unter Führung von Yufayyur, meines treuen Sohns, und Ikken, den Sohn König Gaya's, zur Kasbah des Wüstenkönigs zurück, um dort den verdienten Lohn zu empfangen."