Ikken fror im kühlen Luftzug. Er fischte nach der leichten Decke, die er im Schlaf weggestrampelt hatte und zog sie über den Kopf. Doch nach einem Moment schob er sie wieder so weit zurück, dass er sich umsehen konnte. Wo war er?
Graues Dämmerlicht drang durch die Öffnung am Kopfende des niedrigen Bettgestells auf dem er lag. Mit dem Licht strömte kühle Luft in das Zelt und durch die Zeltöffnung am Fußende heraus. Er setze sich auf. Er war nicht allein. Neben ihm lag Yufayyur mit dem Rücken zu ihm, völlig nackt, d.h. nicht völlig, denn der Zipfel der Decke, die sich beide geteilt hatten, bedeckte seine Körpermitte. Als er genauer hinsah, bemerkte er die Gänsehaut auf dem Rücken seines Freundes. Er drückte sich ganz dicht an ihn, zog die Decke über sie beide, legte seinen Arm um seinen Freund und versuchte ihn aufzuwärmen. Yufayyur regte sich, wachte auf, drehte sich um und sah Ikken mit seinen großen dunklen Augen an.
Ikken hatte jetzt zum ersten Mal Gelegenheit Yufayyur's Gesicht in Ruhe zu betrachten, ohne dass es durch das graue Mundtuch, verhindert wurde, das dieser immer zum Schutz vor bösen Geistern trug.
Yufayyur war wirklich schön! Yufayyur war wirklich „Schöner Als Der Mond" wie sein Namen besagte. Er staunte. Ohne den dichten Schleier, der nur die Augen freiließ, sah Ikken erst wie schön sein Freund war. Lange Wimpern über den glänzenden, fast schwarzen Augen, darüber dichte Augenbrauen, die beinahe mit dem Haaransatz verschmolzen, dichte schwarze Haare, die bis zu den Schultern reichten. Die Nase war schmal, sehr gerade und der Bartflaum über den weichen Lippen dunkel wie die Brauen. Ikken verstand jetzt, warum Tarit den jungen Imuhagh fast so liebte, wie seine Lieblingsfrau Tamimt.
Ikken fragte sich, waren es diese Augen, deretwegen er Yufayyur schon auf den ersten Blick gemocht hatte, waren es seine geschmeidigen Bewegungen, seine Höflichkeit, seine Tapferkeit? Er hatte sich in den zwei Jahre älteren Wüstensohn verliebt, heftiger verliebt als je in einen Menschen zuvor. Zu Yufayyur fühlte er sich stärker hingezogen, als selbst zu Hiyya. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er Hiyya mehr wie eine Schwester liebte, wie eine neugierige Schwester. Als er sich dessen sicher war, beugte sich Ikken über Yufayyur und küsste ihn auf die Stirn.
Yufayyur lächelte zurück, drehte sich dann auf den Rücken, „Komm her, leg dich auf mich, kleiner König Gaya. Wärme mich, ich friere." Ikken krabbelte auf Yufayyur, umarmte ihn und beide drückten sich aneinander und begannen Küsse auszutauschen. Als die Gänsehaut durch ein ungeahnt wohliges Gefühl verdrängt war, fragte Yufayyur, „Willst du mein Bruder sein, kleiner König?" Als Ikken nickte, setzte er hinzu, „Zusammen können wir die Welt erobern!"
„Und ich?", tönte plötzlich eine helle Stimme von Zelteingang her „Willst du mir meinen Bruder wegnehmen oder willst du mich auch als Bruder?"
„Aylal! Aylal!" Ikken rollte sich von Yufayyur herunter, „Wie habe ich dich vermisst! Warum hast du uns gestern Nacht nicht begrüßt, kleiner Vogel? Ich habe dich bei Tamimt gesucht, aber dort warst du nicht, auch nicht bei ihren Schwestern!"
Yufayyur setzte sich auf und lächelte Aylal an, „Komm her! So also sieht mein kleiner Bruder Aylal aus! Schon fast so groß wie mein Ikken. Und er hat seine hellen Haare, seine blauen Augen und seine kleine Nase, und seine liebliche Stimme. Aylal, ich lieb dich schon jetzt wie einen Bruder, komm!" Er rutschte zur Bettkante und machte Aylal auf dem Bett Platz zwischen sich und Ikken. Dann grinste er und begann Ikken's Bruder zu kitzeln „Und haben dich meine drei Schwestern verwöhnt, kleiner Vogel? Haben sie dich so verwöhnt wie mich, als ich klein war?"
Aylal wunderte sich, dass Yufayyur nackt unter der Decke lag. Er drehte sich um und tastete nach Ikken. Der war auch nackt. „Habt ihr gar nichts an? Muss ich auch mein Hemd ausziehen, damit ich euer Bruder sein kann?" Ohne auf die Antwort zu warten, zog er sein Hemd über den Kopf.
In der Morgensonne saßen die drei, Ikken, Aylal und Yufayyur, vor dem Zelt von dessen Mutter, der ältesten und weisesten Frauen des Klans. Sie war die Klanälteste, aber nicht auf Grund ihres Alters, sondern auf Grund der Weisheit, mit dem sie den Klan führte. Sie aßen lauwarmen Hirsebrei mit Fingern aus einer großen Pfanne. Erst jetzt fiel Aylal auf, dass KeYNamM nicht dabei war. „Wo ist KeYNamM-baba! Wo ist Tarit? Tamimt, Lunja und Dihya fragen schon dauernd nach den Beiden. Auch Tarit's kleine Söhne wollen endlich, dass sie ihr Baba auf den Arm nimmt!"
„KeYNamM und Tarit? Sie verfolgen mit den Grenztruppen die Reste von Areksim's Armee. Sie hetzen sie bis zur Grenze des Imperiums. Keiner von ihnen darf im Reich des Wüstenkönigs zurückbleiben. Wenn das einer will, muss er dem Amenokal ewige Treue schwören."
„Haben Tarit's Männer viele der Feinde getötet?" Als die beiden nickten, „Wirklich?" Dann schaute Aylal seinen großen Bruder neugierig an „Und du Brüderchen? Du hast gelobt nie jemanden zu töten! Du magst noch nicht einmal eine Maus töten, die in die Milch gefallen ist! Du hast bestimmt keinen getötet!" Als Ikken rot wurde und nicht sofort antwortete, „Oder doch? "
Ikken blickte verlegen zu Boden blickte. Daher legte ihm Yufayyur einen Arm über die Schultern, „Ikken musste töten! Er war tapfer! Er musste mich und sich verteidigen. Er war tapfer!" Dann erzählter Yufayyur stolz von der Begegnung mit Areksim's Soldaten beim Siebenziegenbrunnen und schloss den Bericht mit, „Er und ich waren nur Späher, wir wollten keinen der Feinde töten, aber Krieg ist Krieg und da heißt es immer, sie oder wir. Wir mussten uns verteidigen, sonst hättest du uns nie wieder gesehen!"
„Und KeYNamM-baba? Der war bestimmt der Tapferste! War er tapferer als Tarit? Hat er das Reich des Wüstenkönigs gut verteidigt? Hat er Tarit geholfen? Schnell, schnell, ich muss Dihya, Lunja, und Tamimt alles erzählen, sie warten schon ganz ungeduldig, besonders Tamimt! Sie hat mir verraten, dass sie und Tarit erst richtig heiraten, wenn Tarit mit Baba zurück ist! Das gibt dann ein großes Fest, ein größeres als heute Abend." Als Ikken ihn fragend anblickte, schlug er sich auf den Mund „Ich darf es eigentlich nicht verraten! Es ist noch ein Geheimnis, aber Tamimt hat es mir verraten. Der Stamm will eure Rückkehr feiern und die aller Kämpfer. Ganz groß! Bestimmt schon heute Abend." Aylal machte eine Pause, „Sollen sie auch eure Hochzeit feiern?"
„Wie kommst du darauf?" Yufayyur runzelte die Stirn und schüttelte fragend den Kopf?
„Heute Morgen wart ihr beide nackt und du Ikken lagst auf Yufayyur, genau wie ich es gesehen habe, wenn zwei sich lieben! Ätsch! Ich habe auch gehört wie das Bett gequietscht hat!"
Ikken wurde rot, „Na und!", er zögerte, „Das verstehst du noch nicht, Aylal. Woher weißt du das überhaupt, mit dem Lieben?"
Aylal wurde rot, „Du darfst uns aber nicht verraten! Was glaubst du was meine neuen Freunde und ich nach Einbruch der Dunkelheit machen? Wir schleichen von Zelt zu Zelt und spicken herein!"
Als Ikken erstaunt zu Yufayyur blickte, lachte der „So ist das hier! Ich war damals auch so neugierig. Hier ist doch sonst nichts los!"
Später führte Aylal die beiden, Ikken und Yufayyur, zu den Zelten der drei Schwestern, die im Schatten von knorrigen Akazienbäumen errichtet waren. Im ersten Zelt stillte Dihya gerade ihren kleinen Sohn. Ikken bekam große Augen, als sie die Drei hereinwinkte. Der kleine Prinz, so nannte sie ihren Sohn, nuckelte geräuschvoll an ihrer Brust und als sie ihn kurz ablegte, um ihren Bruder und Ikken zu umarmen, protestierte er laut. „Der ist immer hungrig! Mein Prinz wird später bestimmt genauso stark und tapfer wie sein Vater!", lachte sie und reichte dem Baby ihre andere Brust.
Ikken wunderte sich über ihr freizügiges Benehmen. In der Stadt würde keine Mutter ihrem Säugling in aller Öffentlichkeit die Brust geben und er musste zugeben, Dihya's Brust war schön. Sie war rund, fest und voll Milch, so voll Milch, dass sie dem Kleinen aus dem Mund rann, als er daran saugte.
Yufayyur wollte beginnen vom Feldzug zu erzählen, doch sie unterbrach ihn, „Warte einen Augenblick bis mein Prinzchen satt ist, lieber Bruder, lass uns dann nach draußen gehen und uns im Schatten der Bäume niedersetzen. Dort warten bestimmt schon Lunja und Tamimt, denn sie sind genauso neugierig wie ich."
Die beiden Schwestern warteten wirklich schon im Schatten der Bäume. Sie hatten dort eine Decke ausgebreitet. Lunja's kleiner Sohn schlief auf ihrem Arm und Tamimt vertrieb sich die Zeit mit Flechtarbeiten. Als Yufayyur sie mit einer Umarmung begrüßte, überfiel sie ihn mit Fragen. „Wann kommen Tarit und der Amestan endlich? Wann kann ich den KeYNamM endlich kennenlernen. Ich warte und warte, denn dein zweiter Vater Tarit hat versprochen, das wir richtig Hochzeit feiern, wenn KeYNamM endlich frei ist und wir alle zusammen sind."
„Ja, die kommen bald, liebstes Schwesterlein! Tarit hat seinem Freund von deiner Schönheit erzählt und ich wette, er hat sich schon in dich verliebt, bevor er auch nur einen Blick auf dich werfen konnte."
Ikken blickte erst auf Tamimt, dann auf die beiden anderen Schwestern, „Er liebt nicht nur dich Tamimt, KeYNamM-baba, unser Vater liebt Lunja und Dihya genauso. Er kann gar nicht erwarten euch alle drei zu umarmen!"
Jetzt mussten alle drei Schwestern lachen und die Älteste reichte Ikken ihren Sohn, „Schau wie schön er ist, dunkelhäutig wie Tarit. Er hat jetzt schon Locken wie Tarit und sonst gleicht er ihm auch!" Lunja fügte hinzu, „Wer weiß, vielleicht werden unsere nächsten Söhne blond sein wie der Amestan."
Dann bat sie Ikken und Aylal sich vor ihnen einmal im Kreis zu drehen. Sogleich klatschte sie erfreut in die Hände. „Seid ihr blond und blauäugig wie er? Ist er auch so hübsch wie seine Söhne?" lachte sie, „Wenn das so ist, dann freuen wir uns ihm zu begegnen!"
„Aber er ist unser zweiter Vater, nicht unser richtiger Vater! Er kannte unsere Mutter nicht einmal. Aylal hat sich ihn zum Vater ausgesucht!"
„Nein Ikken, du hast ihn dir zuerst ausgesucht und jetzt liebe ich ihn genau wie du!"
„Kleiner König Gaya! Kleiner Vogel! Ich weiß, dass ihr ihn liebt, seit ihr ihn zum ersten Mal gesehen habt! Darum habt ihr keinen Augenblick überlegt und ihn gerettet, als er in Not war! Ihr seid seine echten Söhne!", sagte plötzlich eine tiefe Stimme hinter ihnen. Ikken und Aylal drehten sich um und da stand sie, die Klanmutter, die Mutter von Dihya, Lunja, Tamimt und Yufayyur, in einem weißen, weiten Kleid, ihr Aleshu, das Kopftuch, mit goldenen Blättchen über und über verziert, und einem Brustschmuck, den Chomeissa, aus riesigen weißen Muschelschalen. Nach ihr kamen die anderen Frauen des Klans, viele mit Kleinkindern auf dem Arm, und dahinter die kleinen Mädchen und Jungen. Sie umringten den heimgekehrten Yufayyur und seinen Gast Ikken. Auf ein Zeichen der Klanmutter näherte sich ein Diener, setzte ein großes Tablett mit Tee vor die beiden auf die Decke und die Klanmutter setzte sich zu ihnen nieder.
Jetzt erst bemerkte Ikken, dass die größeren Jungen und die jungen Männer es sich im Schatten der Bäume bequem gemacht hatten. Die Klanmutter suchte die Gruppe mit den Augen ab und winkte dann die fünf jungen Männer heran, die am Feldzug teilgenommen hatten.
Als das Gemurmel der Unterhaltungen nicht sofort verklang, richtete sich die Klanmutter auf und befahl den Versammelten mit einer weit ausholenden Geste Ruhe. Dann wandte sie sich an ihren Sohn, seine Mitstreiter und an Ikken „Wir danken dir mein tapferer Sohn und all deinen Mitstreitern! Wir danken dir Ikken, Sohn des Königs Gaya, der, obwohl noch so jung, keinen Kampf gescheut. Eure Tapferkeit hat den Feind vertrieben, die Söldner des Imperiums, die auch uns knechten wollten. Ihr seid alle heil zurückgekommen und habt bewiesen, dass die Wüstensöhne auch einen überlegenen Feind in die Flucht schlagen können."
Diese Lobpreisung sprach sie feierlich und ohne einmal Luft zu schöpfen. Dann hielt sie kurz inne, um den Anwesenden die Bedeutung ihrer Worte klarzumachen und schloss, „Jetzt sprecht meine Söhne, erzählt uns alles über den Kampf und den Sieg!"
Yufayyur strahlte und begann mit der Schilderung des Feldzuges. Er schilderte die Ereignisse so anschaulich, dass alle die Kämpfe miterlebten. Ikken ergänzte das Geschehen aus seinem Blickwinkel. Für den Jungen, der sein bisheriges Leben fast vollständig in der Stadt verbracht hatte, war die Begegnung mit dem Wüstengeist ein besonderes Erlebnis. Vor Aufregung zitternd erzählte er wie Kel Essuf sie als Sturmwind geweckt hatte und von den Rosen, die er ihnen schenkte. Dann verbeugte er sich tief vor der Großen Mutter, „Dir weise Mutter und allen Müttern ein Gruß von Kel Essuf, dem der Gutes schenkt, denen die ihn fürchten. Die Wüstenrosen werden dem Klan Glück, Gesundheit und Freude bescheren!"
Während der Mittagshitze zogen sich alle in die Zelte zurück, in denen der durchziehende Wind für etwas Erfrischung sorgte. Ikken und Yufayyur warfen sich müde vom überstandenen Feldzug und dem anstrengenden Morgen auf das niedrige Bett und wachten erst auf, als die Sonne hinter den Sanddünen versank.
Es war weder die Sonne, noch der Durst, noch der Hunger der sie gegen Abend aus dem Tiefschlaf holte, sondern der eintönige Rhythmus einer Trommel, die den Saiteninstrumenten den Rhythmus vorgab. Er lockte Ikken und Yufayyur zum Versammlungsplatz am Brunnen. Dort hatten sich die Mitglieder des Klans fast vollständig in einem Halbkreis versammelt. Mütter mit ihren Säuglingen an der Brust hockten auf dem sandigen Boden vor den Bäumen. Zahnlose alte Frauen kauerten dort, Geschichten längst vergangener Zeiten austauschend. Halbwüchsige Burschen versuchten junge Mädchen aus der Reserve zu locken. Diese spielten die unnahbaren Jungfrauen, warfen aber geschützt vom geschmückten Kopftuch, dem Aleshu, dem einen oder dem anderen Burschen vielversprechende Blicke zu. Die Kinder hatten ihre Spiele eingestellt und lauschten dem Gesang und der Musik.
Die Instrumente wurden von Frauen gespielt. Sie wurden angeführt von einer weißhaarige Alten, die mit einer großen Trommel den Takt vorgab. Das Instrument war aus einem alten Hirsemörser hergestellt, der mit einer Ziegenhaut bespannten war. Auf der Trommel ahmte sie den Rhythmus galoppierender Pferde nach. Neben ihr hockten zwei noch ältere Frauen und entlockten den einsaitigen Fiedeln klagende Laute. Die Klagelaute überdeckten die weichen Töne der dreisaitigen Laute, einer Tahardent, die ein junges Mädchen schlug. Über allem schwebte der sich gleichförmig wiederholende Gesang der übrigen Frauen, der ab und zu von schrillen Trillern und spitzen Jodlern unterbrochen wurde.
Beim Anblick so vieler Frauen und Mädchen fühlte sich Ikken zunächst verloren und suchte im Halbdunkel Yufayyur's Hand. Dabei erblickte er die Männer, die im Hintergrund im Kreis um ein niedriges Feuer saßen, über dem sich geschlachtete Ziegen am Spieß drehten. Die jungen Männer, von denen fünf unter Yufayyur's Führung am Feldzug teilgenommen hatten, sah er erst als sein Freund ihn ins Dunkel unter die Bäume zog. Hier hatten sie schon ungeduldig auf die beiden gewartet. Zur Feier des Tages trugen sie weiße, lange Überkleider, die im schwachen Licht des Feuers leuchteten.
Als Yufayyur und Ikken eintrafen, mussten sie sich an der Spitzte der kleinen Gruppe stellen. Langsam und würdevoll schritten die jungen Männer durch eine Lücke in der Kette der Frauen und formierten sich davor zu einem Kreis, in dessen Mitte Yufayyur und Ikken treten mussten.
Das rhythmische Klatschen der Frauen, das zuvor nur schwach zu hören war, schwoll an, ihre schweren Armreifen klapperten im Takt und eine raue Stimme hob an zu singen. Sie gehörte einer Frau, die wie eine Statue neben den Musikerinnen stand. Es war Yufayyur's Mutter, die Anführerin des Klans. Ikken verstand den Dialekt der Wüstensöhne nur ungenügend, aber aus den wenigen Worten, die er verstand, erriet er, dass die Klanmutter von einem Falken sang, der über einem Löwenrudel kreiste, sich dann tollkühn auf den Rudelführer stürzte, sich auf dessen Kopf festkrallte und ihm mit seinem scharfen Schnabel die Augen aushackte. Nach jeder Strophe des Liedes erklangen Triller, die Fiedeln schrillten auf. Nur die Laute behielt den Grundton bei. Ikken verstand, sein Freund Yufayyur war der Falke.
Die jungen Männer folgten dem Rhythmus der Trommel. Sie umrundeten ihren Anführer Yufayyur einmal schwerfällig wie müde Reittiere, dann wieder leichtfüßig wie junge Fohlen, dabei schwangen sie ihre langen Messer, als würden sie unsichtbare Feinde angreifen. Tanzten die jungen Männer links herum, dann bewegten sich Yufayyur und Ikken rechts herum. Am Ende jeder Strophe, wenn die schrillen Triller zum Nachthimmel aufstiegen, begannen sich die Tänzer um ihre eigene Achse zu drehen. Dabei flatterten die weiten Oberkleider. Je schriller die Triller erklangen, desto schneller drehten sich die Tänzer. Am Beginn jeder neuen Strophe begann der Kreistanz aufs Neue, aber diesmal bewegten sich die Tänzer in die entgegengesetzte Richtung wie bei der vorherigen Strophe.
Während die jungen Männer im Kreis tanzten, begann Yufayyur zunächst rhythmisch auf den Boden zu stampfen. Mit den Füßen kickte er den Sand hoch und imitierte so ein galoppierendes Pferd. Der feine Sand wirbelte über den Boden, wie der Sand im Sturmwind über die Wüste. Dann begann sich Yufayyur um die eigene Achse zu drehen, um gegen Ende der Strophe wieder in den Pferdetanz zu wechseln. In den Pausen zwischen den Strophen, wenn die Kreistänzer sich um sich selbst drehen, hängte sich Yufayyur bei Ikken ein und sie tanzten langsam im Kreis. Während der ersten Strophen hatte Ikken Mühe Yufayyur's Tanzschritten zu folgen, aber nach der dritten oder vierten Strophe bewegte er sich so leicht im Rhythmus der Trommel wie eine Feder.
Als die Saiteninstrumente nach dem ersten Tanz kurz aussetzten, blieben die Tänzer auf der Stelle stehen, um nach ihrem erneuten Erklingen, ihren Tanz in anderer Formation fortzusetzen. Nun reihten sich auch die Männer, die nicht am Feldzug teilgenommen hatten, in den Kreis ein und die fünf Teilnehmer am Feldzug gegen die Truppen des Gouverneurs traten in die Mitte des Kreises zu Ikken und Yufayyur. Da alle mit ihren Dolchen während des Tanzes nach imaginären Feinden stießen, wurde Ikken nervös, schließlich wollte er KeYNamM unverletzt wiedersehen. Die Männer hatten jedoch den Tanz so oft vorgeführt, dass niemand verletzt wurde. Nach dem dritten Tanz, löste sich der äußere Kreis ganz auf und alle Männer, alte und junge, stampften wie Reittiere, wirbelten den Sand auf, drehten sich wie Windhosen um ihre eigene Achse und verbeugten sich, als die letzte Strophe verklungen war, vor den Musikerinnen, den Sängerinnen und besonders vor Yufayyur's Mutter, der Klanältesten.
Dann begannen die Frauen das gebratene Fleisch zu verteilen, brachten Fladenbrote, Datteln und Feigen, reichten den Frauen Tee, den Männern Palmwein und den Kindern mit Honig gesüßtes Wasser. Yufayyur's Mutter nahm Ikken in den Arm und führte ihn etwas abseits und reichte ihm ein ausgesucht gutes Stück Fleisch. „Ich danke unserem Schöpfer, dass er Yufayyur so einen Freund geschenkt hat. Jetzt weiß ich, warum ich nach Beginn des Feldzuges alle Angst verlor und wusste, dass mein Sohn, der zukünftige Führer unseres Klans, unversehrt zurückkehren wird. Du bist wirklich der Sohn Gaya's! Wenn ich dich sehe, weiß ich, dass du den Imuhagh und den Menschen am Draa Frieden und Glück bringen wirst."
Ikken war so müde, dass er die Worte der weisen Frau nur halb verstand, aber er verbeugte sich tief, „Mutter?" fragte er, „Mutter? Kannst du auch meine Mutter sein? Einen neuen Vater habe ich schon! Es ist KeYNamM, aber meine Mutter ist schon so lange tot, dass ich sie nur noch als Traumgestalt kenne."