„Wo stand dein Zelt, KeYNamM-baba? Das Straflager ist riesig und die Menschen dort drüben sind so klein wie Ameisen. Wer sind die Gefangenen und wer die Wachposten? Ich kann das nicht unterscheiden. Alle sehen gleich aus!" Ikken lag zwischen KeYNamM und Tarit auf dem Bergkamm dem Straflager gegenüber. Von hier oben konnten das ganze Straflager überblickt werden. Der Amestan hatte es noch nie aus dieser Perspektive gesehen. Er selbst musste sich erst noch orientieren.
Klar, er erkannte die Wunde, die die Gier nach mehr Kristallen und mehr Kristallen in den Berg am Rande des Jbel Sirwa gerissen hatte. Die jahrzehntelange Bergbauaktivitäten hatte ein Drittel des Bergrückens weggenagt. Von dem einst hohem Ausläufer des Gebirges war nun mehr das Plateau mit dem Straflager geblieben und die steile Felswand, welche die Westseite des Lagers bildete. Die nackte Felswand erinnerte an ein von Termiten zernagtes Holzstück. Die Löcher in der Wand waren aber die Eingänge zu den kurzen Stollen, in denen die Strafgefangenen nach Kristallen schürften. Zwischen dieser Steilwand und der schäbigen Siedlung für die Wachmannschaft und ihren Kommandanten am anderen Ende, nahm das Straflager die steinige Fläche ein, ein staubiges Trapez, entstanden durch das Einebnen des Abraums.
Die zerfressene Steilwand bildete ein natürliches, weil unüberwindliches Hindernis für jeden Ausbruchsversuch, zumal ihre obere Kante durch einen Palisadenzaun gesichert war. Dieser führte am Rande der Wände bis zum Straflager herunter, weiter an dessen Nordgrenze entlang bis zum Zaun, der die Behausungen der Wachmannschaft vom Straflager trennte. Entlang des Nordzauns aus übermannshohen Pfählen hatten die Sträflinge alles Gestrüpp aufgehäuft, das beim Abgraben des Bergrückens zur Erweiterung der Mine anfiel. Dadurch war ein unüberwindlicher Wall aus trockenen, ineinander verfilzten, teils schon verrotteten Ästen entstanden, der jetzt im Hochsommer trocken wie Zunder und damit wie geschaffen für KeYNamM's Plan war.
KeYNamM wollte das Lager von der Nordseite her angreifen, da dies von der Südseite her nicht möglich war. Gegen Süden war das Lager zwar nur durch einen niedrigen Zaun gesichert, der sich leicht verlegen ließ, sobald neue Stollen in den Berg getrieben wurden, um die erschöpften Stollen im nördlichen Teil des Steilhangs zu ersetzen. Entlang dieses Zaunes patrouillierten, im Gegensatz zu dem Gestrüppwall im Norden, Tag und Nacht schwerbewaffnete Wachen mit scharfen Hunden.
Von hier oben auf dem Bergkamm konnten sich KeYNamM, Ikken und Tarit einen guten Überblick über das Straflager und die Siedlung der Wachposten verschaffen. Die Sträflinge hausten entweder in den ausgebeuteten Stollen im nördlichen Bereich der Steilwand oder in Zelten davor. Weder die Wohnhöhlen, noch die Zelte gewährten ausreichend Schutz gegen die brütende Mittagssonne und den kalten Nachtwind. Im mittleren Teil des Lagers waren die herausgebrochenen Steinbrocken in offenen Hallen aufgehäuft, die die Sträflinge im Schutz des Daches mit kleineren Hämmern vorsichtig zerklopfen mussten, um die kostbaren Kristalle möglichst unzerstört aus dem wertlosen Muttergestein zu lösen.
Der Zaun zur Siedlung im Osten war besonders hoch und der Durchgang vom Lager her durch ein eisenbeschlagenes Tor gesichert. Zum Essenfassen mussten sich die Sträflinge morgens und abends am Tor anstellen, wo ihnen die Lagerweiber den mageren Brei aus Hirse, Bohnen und manchmal auch Fleischbrocken durch eine Klappe in ein irdenes Gefäß klatschten. Zu trinken gab es Wasser in Fässern. Diese standen neben dem Tor und wurden von den Wächtern nach Belieben aufgefüllt. Eine beliebte Art der Bestrafung der Häftlinge bestand darin, die Fässer tagelang nicht aufzufüllen.
Der Lagerkommandant und die Wachposten kümmerten sich um die Ordnung in den Reihen der Strafgefangenen nur indirekt. Die Ordnung wurde vielmehr von einer Kapo aufrechterhalten, die sich aus den Reihen der Verurteilten selbst rekrutierte. Sie wurde von den brutalsten Verbrechern angeführt, die ihre Lieblinge bevorzugte und alle übrigen Strafgefangenen knechtete. Der Kreis der Kapo war privilegiert, nicht nur, dass sie die mühsame Arbeit in den Schächten denen aufzwingen konnten, die ihnen nicht die Füße leckten, sondern auch dadurch, dass sie als erste Zugriff auf das Essen hatten und sich daher die größten Fleischbrocken aussuchen konnten.
Das imposanteste Gebäude der Siedlung der Bewacher war das Haus, das vom Kommandanten und seiner Familie bewohnt wurde. Das kleinste Gebäude, das mit den dicksten Wänden, war der fensterlose Bunker, in dem die Ausbeute der Mine jeweils bis zum Abtransport gelagert wurde. Die Wachposten, meist ehemalige Soldaten, hausten in langen Baracken ohne großen Komfort. Der wurde ihnen im Küchenbau geboten. Der beherbergte nicht nur die Küche und die Vorratsräume sondern auch eine Kantine, in der die Wachposten ihre Freizeit verbringen konnten. Das wichtigste in diesem Bau waren jedoch die Kammern der Lagerfrauen. Diese kochten und wuschen nicht nur, sie mussten auch den Wächtern zur Verfügung stehen, was sie je nach Laune widerwillig oder mit Freuden taten.
KeYNamM wartete einen Augenblick bevor er Ikken antwortete. „Siehst du die Stelle dort wo der Palisadenzaun am Fuß der Steilwand endet und der Zaun entlang der Nordseite des Lagers beginnt?", als Ikken hindeutete. „Ja dort, dort stand unser Zelt, das ich mit Amaynu, Ochuko und Idir teilte. Es liegt gleich neben dem Wall aus Gestrüpp, so konnten wir den Schikanen der Kapo am besten entgehen und wurden auch nicht durch das dauernde Gehämmer gestört, das beim Trennen der Kristalle vom tauben Gestein zu hören war. Ich hoffe, der Schlafplatz meiner drei Freunde ist immer noch beim Gestrüppwall, denn das würde ihre Befreiung erleichtern."
„Und wie wollen wir deine Freunde befreien? Wir sind doch nur Drei! Wir Drei können doch den Palisadenzaun nicht einreißen und den Wall aus Gestrüpp wegräumen. Dazu bräuchten wir eine ganze Armee."
„Wir schaffen das sogar zu Zweit! Du und ich und das Feuer! Tarit wird anderswo gebraucht! Aber er hat mir Steinöl für die Feuertöpfe mitgebracht! Diese Waffe ersetzt eine ganze Armee!"
„Das Zeug, das so stinkt? Willst du die Wachen mit seinem Gestank vertreiben?"
Tarit grinste! „Ich lass euch besser allein. Ich misch mich nicht in einen Streit zwischen Vater und Sohn. Da hol ich mir nur eine blutige Nase!" Mit einem „Viel Glück! Bis morgen früh!" machte er sich auf den Abstieg.
Im Schutz der Dämmerung pirschten sich KeYNamM und Ikken an den Palisadenzaun heran. Sie brauchten nicht leise zu sein, da das Gehämmere noch andauerte, als die Mondsichel schon am Himmel hing und die Landschaft in fahles Licht tauchte. Auch als das Gehämmere endlich verklang, trat keine völlige Stille ein. Stattdessen drang ein dauerndes Gemurmel aus dem Straflager über den Zaun, das immer wieder durch spitze Schreie unterbrochen wurde, die sowohl Schmerz- als auch Lustschreie sein konnten.
Der Palisadenzaun hob sich schwarz gegen den Nachthimmel ab, als KeYNamM und Ikken vorsichtig den Hang zum ihm hinaufkrochen. An seinem Fuße angelangt, lauschten ins Dunkel, aber alles war ruhig, d.h. es war nur das gleichmäßige Gemurmel der Strafgefangenen zu hören sowie Hundegebell vom Südzaun des Lagers. Der Zaun hier war also heute auch nicht bewacht, wie KeYNamM aus seiner Zeit im Lager wusste.
KeYNamM fischte den ersten der drei Feuertöpfe vorsichtig aus den Sack, drehte den festsitzenden Stopfen aus dem engen Hals des Tonkruges, zog den Luntenstreifen mit Hilfe des daran geknüpften Fadens eine Spanne weit aus dem Krug und hielt diesen in die Flamme der Blendlaterne, die ihm Ikken entgegenstreckte. Der Geruch nach Steinöl, gemischt mit Harz und Salpeter, stieg ihnen in die Nasen. Ikken nieste. Er protestierte, „Schnell, wirf den Feuerkrug über den Zaun, sonst niese ich mich zu Tode und die merken noch, dass wir hier sind."
Weit ausholend schleuderte KeYNamM den Feuertopf über den Palisadenzaun. Er betete, dass die dünne Wand des Tonkruges beim Aufprall in tausend Scherben zerbersten, das leicht brennbare Gemisch auf den dürren Ästen hängen bleiben und von der glühenden Lunte in Brand gesetzt werden würde. Sie warteten einen Augenblick und als über den Zaun steigender Rauch anzeigte, das zumindest einige Äste in Brand geraten waren, schlichen sie den Zaun entlang und KeYNamM entzündete die Lunte des zweiten Feuertopfs und warf ihn über den Zaun. Die Stelle lag viel näher an der Siedlung der Wächter, als die, an der der erste Brandsatz geworfen worden war. Jetzt liefen sie geduckt, so schnell es bei der herrschenden Dunkelheit möglich war, noch ein Stück den Hang entlang, fast bis zur Siedlung und warfen dort den dritten Feuerkrug über den Zaun. Der Fallwind, der vom Berg ins Tal strich, fachte die entstandenen Glutnester an und bald wanderten drei Feuerschlangen den Zaun entlang zur Siedlung. Wo das Feuer trockene Nahrung fand, loderten die Flammen hell auf, ein Funkenregen flog durch die Nacht und entzündete nicht nur das trockene Gestrüpp am Zaun innerhalb des Straflagers, sondern die kümmerlichen Büsche am Talhang.
KeYNamM und Ikken warteten den Erfolg ihrer Aktion nicht am Zaun ab, sondern kletterten ein Stück den Berghang hinauf, um eine gute Übersicht über die Geschehnisse im Lager erhalten zu können. Versteckt hinter einem Felsbrocken warteten sie auf die Alarmschreie der Wachposten und Strafgefangenen oder zumindest das Aufheulen der Wachhunde, deren feine Nasen den Rauch als erste wahrnehmen sollten.
Erst als die drei Feuerschlangen schon ein Stück vorwärts gewandert waren, ertönten die ersten Alarmrufe, in die sich aus der Entfernung unverständliche Kommandos, Flüche und das nervöse Gebell der Wachhunde mischte. Bald brannte der Gestrüppwall entlang des Zaunes lichterloh und sie konnten beobachten, wie die Wachen vergeblich versuchten die Gefangenen zusammenzutreiben, um einen Ausbruch zu verhindern, da eine Löschung des Brandes aussichtslos schien.
KeYNamM und Ikken warteten geduldig, denn bevor nicht mindestens ein Teil der Palisaden völlig niedergebrannt war, konnten die Gefangenen nicht ausbrechen. Würde Amaynu, Ochuko, Idir die Flucht gelingen? Das war die Frage, die KeYNamM quälte. Die Vier hatten während der gemeinsamen Zeit im Straflager ein Zeichen gehabt, mit denen sie sich verständigten, das Flöten der Wüstenlerche. Er richtete sich hinter seiner Deckung auf und trillerte dreimal wie der Vogel. Er wartete. Keine Antwort! Jedenfalls schien niemand den Ruf der Lerche gehört und beantwortet zu haben. Das jedoch war nicht sicher, da im Lager inzwischen ein Höllenlärm ausgebrochen war.
Die anfängliche Ruhe war schnell lautem Geschrei gewichen. Im ersten Moment verstand Ikken nicht, warum der Lärm so zugenommen hatte und warum sich die Menge zu einem Klumpen zusammenballte und keiner den Brand bekämpfte. „Die kämpfen miteinander, Sträflinge und Wachpersonal kämpfen miteinander", flüsterte ihm KeYNamM zu, „Schau das Wachpersonal will verhindern, dass sie zum Brandherd vordringen, aber die Strafgefangenen drängen immer weiter zum Zaun. Sie wollen sich den Weg freikämpfen und flüchten sobald der Zaun niedergebrannt ist. Die Hunde sind auch keine Hilfe mehr! Hörst du wie sie heulen? Die Sträflinge versuchen wahrscheinlich die Bestien totzuschlagen."
Im schwachen Mondlicht konnte Ikken erkennen, das sich zwei Parteien gegenüberstanden. Die größere hatte die kleinere umzingelt, obwohl diese über Lanzen verfügte, deren Spitzen im Mondlicht blinkten. Viele der Sträflinge hatten sich jedoch mit langen Stangen bewaffnet, mit denen sie die Lanzenstöße der Wachen abwehrten und auf sie einschlugen. Andere wieder hoben Steinbrocken auf, die zuhauf herumlagen, und bewarfen damit die Wächter. Das numerische Übergewicht der Strafgefangenen war beträchtlich und konnte von der Wachmannschaft auch nicht durch ihre bessere Bewaffnung ausgeglichen werden.
Das Häuflein der Wächter wurde immer weiter zusammengedrängt. Bevor die Wächter jedoch überrannt werden konnten, veränderten sie ihre Taktik. Sie versuchten nicht mehr zum brennenden Zaun vorzustoßen, um einen Ausbruch der Strafgefangenen zu verhindern, sondern wechselten die Stoßrichtung, durchbrachen die Einkesslung und versuchten das Tor zur Siedlung zu erreichen. Dies gelang ihnen jedoch nur unter weiteren Verlusten. Die Lagerweiber, die die Wächter von Beginn an angefeuert hatten, öffneten den kleinen Durchgang neben dem Haupttor, durch den einer nach dem Anderen flüchten konnten. Während eine kleinere Gruppe von Strafgefangenen das Tor belagerte, strömte die meisten zum Zaun und suchten nach Stellen, an denen das Feuer den Nordzaun schon vollständig niedergebrannt hatte und die Glut schon am Erlöschen war.
Dort wo der Nordzaun an die Felswand stieß und der Zaun bis auf wenige Palisaden niedergebrannt war, warfen die Strafgefangenen große Steine auf die heiße Asche und bauten so einen begehbaren Weg über die Glut. Über diesen verließ jetzt im ersten Licht des Tages ein ständiger Strom von Flüchtenden das Straflager. Die ersten schienen nur das mitgenommen zu haben, was sie auf dem Leibe trugen, die Späterkommenden schleppten ihre wenigen Habseligkeiten in einem Bündel auf dem Rücken. KeYNamM war jedoch sicher, dass viele, wie er damals auch, einen kleinen Schatz an Kristallen gehortet hatten, den sie jetzt in der neu gewonnen Freiheit dringend gebrauchen könnten. Aber wie weit würden die wenigen Steine auf der Flucht vor den Häschern des Imperators reichen?
KeYNamM verschwendete keine weitere Zeit, um darüber nachzudenken, sondern suchte die Reihe der Flüchtenden nach seinen Freunden von damals ab. Er musste sie finden, wenigstens einen von ihnen, der ihm berichten könnte, was aus den Anderen geworden war. Hatte überhaupt einer von ihnen überlebt? Hatte der Gouverneur sie aus Rache für sein Entkommen töten lassen? Alles konnte geschehen sein. Für einen Augenblick übermannte ihn Trauer und Müdigkeit und es fielen ihm die Augen zu.
KeYNamM schreckte auf, als Ikken ihn anstieß! „Dort schau KeYNamM-baba, schau der große Schwarze, der einen kleineren Mann stützt, suchst du die?" Es war Ochuko und der, der neben ihm herhinkte war Amaynu. Idir ging direkt dahinter. Er hatte einen dicken Verband um den Kopf gewunden. KeYNamM sprang auf, winkte mit den Armen und schrie, „Ochuko, Ochuko, hier herauf! Hier sind wir! Ochuko, Amaynu, Idir, hier herauf!"
Ikken hatte KeYNamM-baba noch nie so schnell rennen sehen wie jetzt. Langsam kletterte er ihm nach und als er sah, wie die vier sich umarmten, wie Verrückte herumtanzten, sich gegenseitig auf die Schultern klopften, sich auf die Wangen küssten, wurde er ein wenig neidisch. Schließlich hatte er die Drei entdeckt, ohne dass er sie jemals zuvor gesehen hatte. Ikken war aber rasch versöhnt, als sich der große Schwarze zu ihm beugte, ihn anstrahlte und hochhob, „Du bist der Mutige, der den Amestan gerettet hat! Du musst es sein! Du und dein kleiner Bruder sind berühmt, ihr werdet sogar von den Wachen im Lager bewundert."
Trotz der Lanzenwunde, die Amaynu im Oberschenkel hatte, beschlossen sie nicht der langen Schlange der Flüchtenden ins Tal zu folgen, sondern nahmen den beschwerlicheren Weg über den Bergkamm nach Norden. Um die Mittagszeit rasteten sie an einer Quelle am Rande eines Zedernwaldes und stiegen erst gegen Abend in ein Tal ab, das nach Osten führte. Als sie am Abend das erste Dorf sahen, ein von einem Mauerring umgebenes Wehrdorf auf einem kahlen Hügel über dem Tal, versteckten sich Amaynu, Ochuko, Idir am Bach zwischen Sträuchern, während KeYNamM und Ikken den steilen Pfad zum Ksar hochstiegen.
Als die beiden in der Dämmerung durch das Tor in den engen Innenhof der Wohnburg zwischen den hochaufragenden Häuser traten, scheuchte ein langgezogener Triller die Kinder, die gerade noch in der Dämmerung herumtobten, in die Häuser.
Der Innenhof war nun menschenleer, nur dürre Hunde umkreisten sie gefährlich knurrend. Ängstlich suchte Ikken die dunklen Fensteröffnungen und schmalen Eingänge in den graugelben Hauswänden nach Leben ab. Gerade als er KeYNamM an der Hand fasste, um ihm zum Tor der Wohnburg zu ziehen, öffnete sich eine Tür im größten der Häuser und eine gebeugte Gestalt bewegte sich langsam, die wenigen Stufen vom Hochparterre herab, in den Innenhof. In der aufkommenden Dunkelheit konnte weder KeYNamM noch Ikken erkennen, ob es sich bei der Gestalt in dem weiten Umhang um die eines Mannes oder einer Frau handelte.
Ikken schauderte es, als die Gestalt sie dreimal umkreiste und dabei Verse murmelte, die sicher Gebete sein konnten aber auch Verwünschungen. Erstarrt klammerte er sich an KeYNamM. Ihn schauderte es noch mehr, als die Gestalt vor ihm stehenblieb, ihm mit knochiger Hand übers das Haar fuhr und ihm dann den spitzen Zeigefinger in die Brust bohrte, genau dort wo sein Herz saß. „Ich rieche es, ich rieche es!", murmelte die Gestalt mit der gebrechlichen Stimme einer uralten Frau. „Du bist es, du bis der neue König. Mir machst du nichts vor!", dann drehte sie sich zu KeYNamM, „Wo ist der alte Amestan, der Amestan, den ich liebte als ich jung und schön war? Wo ist er geblieben?" KeYNamM konnte sich keinen Reim auf das machen, was die Alte sagte, denn er verstand den Dialekt nicht, welchen sie sprach. Die einzigen Worte, die er erraten konnte waren König und Amestan und die verunsicherten ihn.
Ikken verstand die Alte wohl, da er den Dialekt der Gebirgsbewohner kannte, die ihre Schafe und Ziegen auf dem Soukh von Tinghir verkauften. „Die alte Hexe kennt dich KeYNamM-baba, sie weiß, dass du der König des Unlands bist. Sie kennt deinen Vater! Sie nennt ihn den alten Amestan. Sie will wissen wo er ist! Aber warum nennt sie dich auch König?"
Jetzt lief es auch KeYNamM kalt den Rücken herunter. Dann antwortete er, „Ja Alte, ich bin der neue Amestan vom Unland. Mein Vater ruht schon lange im Königsgrab in Tamegroute. Du wirst die Freude deiner Jugend nie mehr sehen. Du musst mit dem neuen Amestan vorliebnehmen, von dem du noch nie gehört hast!"
„Sei willkommen Amestan, wie dein Vater bist du hier immer willkommen."
Dann drehte sie sich zu Ikken, legte ihm die Hand segnend auf das Haar, „Du verstehst es jetzt noch nicht, kleiner König. Aber jetzt kann mein Leben verlöschen, denn jetzt bin ich sicher, dass die Linie der Beschützer der Menschen nie erlöschen wird!" Dann drehte sich die Alte um und verschwand durch das Tor in die Nacht.
KeYNamM und Ikken lauschten noch den in der Nacht verklingenden Schritten der Alten, als sie Stimmengewirr aus ihrem Erstaunen weckte. Ein kräftiger Mann, zweifellos der Dorfälteste, der Amrar, verbeugte sich tief vor ihnen. „Was führt dich und deinen Sohn in unser armes Dorf, hoher Herr? Die Sonne ist untergegangen. Seid meine Gäste, mein Haus ist auch euer Haus, mein Tisch euer Tisch, mein Bett euer Bett! Eure Ankunft brachte unserer Mutter den Frieden, den sie so lange ersehnte! Herr, sei willkommen"
KeYNamM richtete den Mann auf. „Herr dieses Tals, wir sind Wanderer und vom Weg abgekommen. Wir, mein Sohn und ich, bitten dich um Brot für uns und unsere drei Freunde, die am Bach warten. Zwei davon sind verwundet und der Dritte muss sie pflegen. Wir wollen dir und deinem Dorfe nicht zur Last fallen, uns genügt das frische Wasser des Baches als Trank und der weiche Sand seines Ufers als Bett, aber wir haben seit gestern nichts gegessen. Nimm unsere Kristalle gegen euer Brot und euren Käse! Ich bitte dich darum Amrar, denn Steine machen nicht satt."
Der Amrar klatsche in die Hände und sogleich brachten Frauen Brot, Käse und Dörrfleisch. Als KeYNamM bezahlen wollte, nahm der Dorfälteste die Kristalle nicht an. Der Amestan rief daher einen der umstehenden Jungen herbei, schüttete ihm glitzernde Kristallen in die offene Hand, „Verteil sie unter deinen Freunden und behandle Fremde wie deine Väter es tun."