Tarit eilte auf dem schmalen Pfad vom Bergrücken ins Tal. Bevor er in den Hohlweg einbog, drehte er sich nochmals um und winkte Ikken zu. Er hatte KeYNamM's Sohn schon nach den zwei Tagen liebgewonnen und verstand, warum sein Freund den fremden Jungen aus der Stadt Tinghir als Sohn angenommen hatte. Seine zwei Söhne waren noch kaum drei Wochen alt und ihm noch fremd. Er hoffte nur, dass sie in Ikken's Alter auch so klug und furchtlos wären wie dieser und er sie so lieben würde, wie deren Freund Ikken und Aylal.
Am Ende des Hohlwegs wartete seine kleine Truppe auf ihn, zwölf erfahrene Wüstensöhne. In Gruppen von jeweils zwei oder drei hatten die Imuhagh während der letzten Tage erst das Unland und danach das Grenzland auf wenig benutzten Pfaden durchquert. Zur Tarnung hatten sie das lange Übergewand der Wüstenreiter mit den kürzeren Hemden der Bewohner des Imperiums vertauscht und den Gesichtsschleier mit einem Turban verdeckt. Mit ihren langen Haaren sahen sie zwar immer noch nicht genau so aus wie Männer aus dem Imperium, konnten aber als Bewohner des Grenzlandes durchgehen.
Tarit spornte seine Truppe an. „Am nächsten schmalen Pfad, der auf diese Straße mündet, liegt die Kristallmine. Das werden wir an der Schranke erkennen, die den Zugang von der Landstraße zur Mine und dem Straflager versperrt. Wir reiten auf der Landstraße weiter bis zum nächsten Seitental, verstecken dort unsere Pferde, ruhen uns aus und warten die Dunkelheit ab. Bei Beginn der Nacht, reiten wir zurück zur Landstraße, legen einen Hinterhalt in dem Eichenwäldchen, durch welches es sie führt, bevor sie auf die große Straße aus dem Grenzland in die Stadt münden. Zwei von euch müssen bei den Pferden bleiben." Er musterte die zwölf, dann deutete er auf den Ältesten und den Jüngsten. „Ameqran, du hast die meiste Erfahrung. Auf dich kann ich mich verlassen, wenn mir etwas passieren sollte. Du bleibst mit Usem bei den Pferden." Dann wandte er sich zu den Jüngeren, „Usem, du bist schnell wie der Blitz und hast Ohren wie ein Wüstenluchs. Du lauerst am Hügel, von dem aus du das Wäldchen und die Straße überblicken kannst. Sobald du etwas Ungewöhnliches entdeckst, verständigst du mich oder Ameqran."
„Wenn ich Reiter auf der Straße sehe, dann verständige ich dich, Prinz Tarit. Wenn ihr in Schwierigkeiten kommt, laufe ich zu Ameqran und hole ihn und die Pferde."
„Vergiss aber auch nicht Ameqran und die Pferde zu holen, wenn unser Coup erfolgreich war", mahnte Tarit.
Schon kurz nach Mitternacht spürte Tarit an den schwachen Erschütterungen des Bodens, dass ein Trupp eilig auf das Wäldchen zugeritten kam. Er spürte die Annäherung der Kavallerie viel eher als er den Hufschlag der Pferde vernahm, da die vom Sand der Straße gedämpft wurden. Er gab das abgemachte Alarmzeichen und jeweils fünf seiner Soldaten nahmen links und rechts der Straße ihre Position ein.
Hinter einer Biegung der Landstraße, an der die Eichen einen dichten Baldachin über diese bildeten, hatten die Imuhagh ein Seil in Brusthöhe von einer Straßenseite zur anderen gespannt. Das starke aber dünne Seil waren in der Dunkelheit fast unsichtbar. Als das Pferd mit dem Leutnant, der die Kavalkade mit der Kristallausbeute des letzten Monats anführte, kurz vor dem strafgespannten Seil war, schnaubte der Braune kurz auf und wollte stehenbleiben. Der Leutnant verstand die Warnung nicht, gab dem Pferd die Sporen. Er galoppierte los und stieß hart gegen das Seil. Der plötzliche Ruck schleuderte des Leutnants Kopf voraus in den Sand der Straße. Die Pferde der beiden hinter ihm reitenden Begleitsoldaten stiegen erschrocken hoch, warfen ihre schläfrigen Reiter ab und büxten aus. Der Leutnant lag noch betäubt im Sand, als die Imuhagh mit Gebrüll aus ihren Verstecken beiderseits der Straße stürmten. Die einen bemächtigten sich der beiden Maultiere, die die Säcke mit Kristallen trugen, die anderen fesselten die abgeworfenen Soldaten und rissen die Begleitsoldaten, die hinter den Maultieren geritten waren, von ihren Pferden und banden ihnen die Hände auf den Rücken. Das Pferd des Leutnants, das gegen das gespannte Seil galoppiert war, tobte, machte auf der Hinterhand kehrt und galoppierte, bevor es eingefangen werden konnte, die Landstraße zurück zur Kristallmine.
Bevor der Leutnant wieder richtig bei Besinnung war, fesselten ihm Tarit die Hände auf dem Rücken. Dann wurde er mit den anderen Begleitern des Kristalltransports an den Waldrand geführt, in sitzender Stellung an Bäume gefesselt und ihrem Schicksal überlassen.
Während des gesamten Überfalls wechselten die Imuhagh kein Wort miteinander. Als Ameqran und Usem mit den Pferden auftauchten, machte sich die kleine Truppe ohne Verzögerung auf den Heimritt. Vorher jedoch teilten sie die geraubten Kristalle in kleinere Portionen auf, damit sie diese, ohne Aufsehen zu erregen, mit zurück ins Reich der Wüstensöhne nehmen konnten.
Schon wenige Stunden später wurde der Gouverneur aus dem Schlaf gerissen. Der Stadthauptmann polterte in sein Schlafzimmer, „Der Kristalltransport wurde überfallen. Die Ausbeute des Bergwerks von mehr als einem Monat wurde geraubt, die Wachen gefesselt.
Der Gouverneur ließ ihn nicht aussprechen, „Was zum Donnerwetter? Was sagst du?" Dann begriff der Gouverneur erst! Räuber hatten das Imperium bestohlen! Den Imperator! Ihn, den Gouverneur! „Hast du die Räuber noch nicht? Nichtsnutz! Los! Los, such sie, fang sie, schlachte sie ab, aber bring die Kristalle zurück!"
Der Stadthauptmann kannte das Temperament des Gouverneurs. „Es war eine Bande der Imuhagh. Sie waren als Bauern verkleidet, haben aber die Sprache der Wüstensöhne gesprochen! Die sind bestimmt schon im Unland und morgen gewiss in der Wüste verschwunden. Wenn sie erst im Sandmeer untergetaucht sind, bekommen wir sie nicht mehr.
Das war jedoch nur die erste Unglücksnachricht dieses Morgens. Kaum hatte sich der Stadthauptmann mit einer Suchmannschaft auf die Verfolgung der Imuhagh gemacht, als der Kommandant des Kristallbergwerks in den Palast des Gouverneurs stolperte. „Das Straflager bei der Kristallmine wurde überfallen. Die Umzäunung niedergebrannt, sieben Wachen erschlagen und ein Dutzend schwerverletzt. Allen Strafgefangenen gelang der Ausbruch. Die sind alle frei Gouverneur, die harmlosen Gefangenen sowohl als auch die gefährlichen, die Schwerverbrecher!"
Gouverneur Gwasila, der dabei war, mit einem reichlichen Frühstück seine Wut zu besänftigen, blieb der Knochen der Lammhaxe im Halse stecken. Puterrot im Gesicht stürzte er sich auf den Kommandanten, würgte ihn und begann ihn zu schütteln. „Deine Schuld! Das ist deine Schuld, einzig und allein! Das wirst du mir büßen! Nicht fähig auch nur die kleinste Aufgabe richtig zu erfüllen! Ich lass dich ins Gefängnis werfen! Du Unfähiger! Und dir habe ich den Posten zugeschanzt!" brüllte er und setzte hinzu, „Die Kristallausbeute des letzten Monats verloren und keine Gefangenen mehr, die den Verlust wettmachen könnten! Wie bringe ich das dem Imperator bei?!"
Nachdem sich Gouverneur Gwasila etwas beruhigt hatte, begann er zu überlegen, wie er seinen Kopf retten könne. Nicht nur den Kopf, nein auch sein Amt und seinen Reichtum. Noch am selben Tag brach er zur Hauptstadt des Imperiums auf, um dem Imperator seine Version von den Vorfällen zu schildern. Er musste die Schuld an dem Debakel auf die Schultern des Kommandanten der Mine abladen. Während des gesamten Ritts zur Hauptstadt überlegt er, welche Version der Ereignisse seine Unschuld und die Schuld des Kommandanten beweisen könnte. Er war das Unschuldslamm, das stand fest, und der Kommandant, der unfähige Tölpel. Das war die Wahrheit und davon musste er den Imperator überzeugen.