Ikken war enttäuscht. „Soll das unser neues Zuhause sein? Unser Unterschlupf in der Stadtmauer hinter dem Marktstand unserer Muhme war dagegen ein Palast!", stöhnte er.
Drei Tage nach der hastigen Flucht aus der Stadt, erst auf versteckten Wegen durch das ausgedorrte Vorland des Gebirges, dann durchs versteppte Grenzland und immer auf der Hut vor den Soldaten des Imperiums, standen er und sein Bruder Aylal vor einem primitiven Unterschlupf am Ufer des Draa. „Du hast uns doch all die anstrengenden Tage mit dem Versprechen auf deinen Lieblingsplatz vertröstet und jetzt? Das ist doch nur ein mieser Unterschlupf, mit einem Dach aus Schilf über einem Loch im Abhang, ohne Bett und Tisch!"
KeYNamM musste Ikken Recht geben. Sein Lieblingsplatz war nur ein Unterstand zwischen den dichten Büschen des Galeriewaldes am linken Ufer des Draa. Zwar war der sandige Boden im Unterstand trocken und die Feuerstelle vor dem Eingang mit Steinen eingefasst, aber sonst? Ein primitiver Unterstand, wie ihn Jäger oder Hirten bevorzugten. Was KeYNamM jedoch an diesem Ort liebte war seine Abgeschiedenheit, die Ruhe ringsumher, den grasbewachsenen Uferstreifen, der sich bis zum Schilfgürtel am Ufer der kleinen Bucht erstreckte, die Kühlung, die der Draa in der Mittagshitze gewährte, und den dichten Wald, der alles wie einen Festungswall umgab. „Langsam, langsam!", bemühte er sich Ikken zu beruhigen. „Schlaf erst eine Nacht hier und du wirst den weichen Sand, das Quaken der Frösche in der Nacht und den Morgengesang der Vögel nie mehr vermissen wollen."
„Ich hab Hunger!", klagte Aylal. „Mein Magen knurrt schon seit wir im Morgengrauen aufgebrochen sind. Aber du hast keinen Herd, um meine Enteneier zu kochen. Warum habe ich eigentlich das Nest ausgenommen? Hier gibt es nur die Feuerstelle, sonst nichts!" Er verzog das Gesicht weinerlich. „Ich habe es dir schon zehnmal gesagt, KeYNamM-baba, ich mag keine Datteln mehr!"
„Warte nur einen Moment! Jemand der versteckt lebt, kann sein Eigentum nicht einfach für alle sichtbar herumliegen lassen. Komm Ikken, hilf mir."
KeYNamM kroch neben dem Unterstand in die Büsche und begann an einer flachen Stelle Blätter und Äste wegzuräumen. Eine geflochtene Abdeckung wurde sichtbar. „Hilf mir den Deckel hochzuklappen, Ikken." Als die Grube abgedeckt war, fragte er ihn: „Und nun?", und zeigte in die Grube. Da lagen ein Tontopf, eine Schüssel mit Deckel, ein zugestöpselter Behälter aus Glas, ein kleiner Lederbeutel, ein großer Löffel, ein Messer mit kurzer Schneide und ein Beil. KeYNamM hob die Schüssel aus der Grube, deckte sie auf, roch am Inhalt und hielt sie dann Aylal unter die Nase, der gerade dazugekommen war. „Riecht gut, nicht Aylal? Riech, nach mehr als einem Jahr riecht die Hirse noch wie frisch geerntet. Heute gibt es Hirsebrei mit Eiern." Dann prüfte KeYNamM die Schneide des kurzstieligen Beils mit dem Daumen. „Scharf genug! Das ist leider die einzige Waffe, die für den Nahkampf taugt. Das kleine Messer taugt dazu nicht." Dann grinste er. „Aber wir haben andere Waffen zu unserer Verteidigung!" Damit fischte er eine Rolle Schnüre und den Lederbeutel aus dem Versteck. „Die Schnüre brauchen wir für Bogensehnen!" Dann gab er Ikken den Beutel, „Schau nur hinein, die Pfeilspitzen und die Federn sind hier drin."
Ikken runzelte die Stirn, „Wo ist denn der Bogen und die Pfeilschäfte?"
„Das Holz für Bögen muss gerade hängen und darf nicht austrocknen. Schau dort im Baum, zwischen den Ästen, dort hängen Bogenhölzer und Pfeilschäfte. Siehst du sie? Gut versteckt und für Vorbeikommende nicht zu entdecken!"
Später, als das Wasser im Tontopf auf der Feuerstelle dampfte, schüttete KeYNamM die Hirse hinein, ließ sie quellen, schlug dann drei der aus dem Nest geräuberten Enteneier hinein und schmeckte das Ganze mit Salz aus dem Glasbehälter und mit Kräutern ab, die zwischen den Bäumen wuchsen.
Die Drei setzten sich im Kreis um den Topf und begannen um die Wette zu essen. Da nur ein Löffel verfügbar war, ließen sie den kreisen. Aylal nippte vorsichtig an dem heißen Brei, aber Ikken schaufelte sofort los. Nach den ersten Bissen strahlte Aylal. „Das beste Essen seit langem!", und leckte den Löffel ab und steckte seinem Bruder die Zunge heraus. „Ikken, du kochst schlechter!" Als er satt war, kletterte er auf den Schoß von KeYNamM, der an einen Baum angelehnt saß, und schmiegte sich eng an ihn. „Jetzt mach ich meinen Mittagsschlaf und du bist mein Bett, KeYNamM-baba!"
Ikken saß den Beiden mit gekreuzten Beinen gegenüber im Sand. KeYNamM beobachtete ihn genau. Als Aylal KeYNamM auf den Schoß gekrochen war, hatte Ikken sie beide mit halbgeschlossenen Augen beobachtet. Dabei zog er ein Gesicht, als wäre er auf seinen kleinen Bruder neidisch. Aber dann streckte er sich im Sand aus und schlief ein.
KeYNamM wusste nicht was er von Ikken halten sollte. Einerseits war der größere der Brüder ein verspielter, neugieriger großer Junge, der typische Heranwachsende, der ihn auf dem Weg hierher mit Fragen gelöchert hatte, andererseits benahm er sich als wäre er schon ein Erwachsener und versuchte seinen kleinen Bruder immer zu beschützen. Wie ein übereifriges, abenteuerlustiges Kind hatte er ihm das Entkommen in Tinghir ermöglicht, ohne die Gefahr zu beachten, die ihm und seinem Bruder dadurch drohen könnte. Aber die Flucht selbst plante und führte er umsichtig wie ein Erwachsener durch. Ikken verhielt sich einmal wie ein naives Kind und dann wieder wie ein erfahrener Erwachsen!
Ikken hatte KeYNamM immer noch nicht verraten, warum er ihn gerettet hatte, trotz seiner wiederholten Fragen und obwohl er ihm versichert hatte, wie er seine Kühnheit bewunderte! Ikken schwieg über sein Motiv. Seine einzige Antwort war ein abwehrendes Achselzucken. KeYNamM vermutete, dass diese Reaktion etwas mit dem verschwundenen Vater zu tun hatte. Aylal hatte so etwas angedeutet und der Kleine nannte ihn immer Vater. Baba, nicht direkt Vater aber KeYNamM-Vater, KeYNamM-baba. Aber auch Aylal verriet ihm nicht, warum sich die beiden dieser tödlichen Gefahr ausgesetzt hatten.
Ikken verhielt sich seinem kleinen Bruder gegenüber fast immer wie ein übervorsichtiges Kindermädchen, nicht wie ein großer Bruder, der dem Kleineren ein Beispiel sein wollte. „Aylal nicht!", „Aylal, pass auf!", „Aylal, lass das!", „Aylal, das ist zu gefährlich!" Immer wieder warnte er den Jüngeren. Zum Beispiel hatte er ihm verboten, auf den niedrigen Baumstumpf zu klettern, als er das Entennest plündern wollte. „Nicht Aylal! Lass mich lieber die Eier holen, du bist zu klein! Du könntest runterfallen!" Aber Aylal hatte natürlich nicht auf Ikken gehört und es war ihm natürlich nichts passiert.
Selbst KeYNamM gegenüber benahm Ikken sich recht seltsam. Er behandelte ihn oft, als wäre er ein Kind, das beschützt werden muss. „Pass auf!", warnte er ihn ein ums andere Mal, z.B. wenn ein aufgescheuchter Skorpion auf dem Weg seinen Stachel hob oder wenn eine Schlange nicht schnell im Gebüsch verschwand, sogar vor dem Frosch warnte er ihn, der in den Brunnen sprang, als sie aus ihm trinken wollten. KeYNamM musste wissen, was sich hinter dieser Einstellung Ikken's verbarg. Er wusste, dass dies wichtig war, wenn er die Aufgabe als Vater der beiden annehmen wollte.
Nach Einbruch der Dunkelheit im Unterstand auf einer Lage frischen Grases liegend, links neben ihm der schnarchende Aylal, weiter rechts Ikken, zusammengerollt wie ein schlafender Hund, überlegte KeYNamM, wie es weitergehen sollte. Ziel seines bisherigen Lebens war es immer gewesen, die Bewohner des Unlands vor den Übergriffen des Imperiums zu schützen, also den Raub von Kindern, Jugendlichen, Frauen und Tieren zu verhindern. Jetzt jedoch war eine andere Aufgabe hinzugekommen, eine schwierigere, eine mit der er nie zuvor gerechnet hatte. Er wollte und musste seine Retter beschützen, Aylal, der ihn wie einen Vater zu lieben schien, und natürlich Ikken, aus dem er noch nicht schlau wurde. Er musste verhindern, dass sie gefangen wurden, dafür sorgen, dass sie selbstständig und erwachsen werden konnten. Aber wie? Er wusste das bloß noch nicht!
Eines hatte KeYNamM in seinem bisherigen Leben gelernt, Angriff war die beste Verteidigung. Er musste daher seinen Feinden immer einen Schritt voraus sein, sie angreifen, bevor sie ihn angriffen, als erster zuschlagen, bevor sie zuschlagen konnten. Er starrte in die Dunkelheit, lauschte dem Quaken der Frösche, dem Bellen von Wildhunden in der Ferne, dem Gesang der Nachtigall und dem Huuten der Eulen. Immer noch grübelnd, schlief er ein. Beim Aufwachen wusste er plötzlich, was die einzige richtige Antwort war.
Am Morgen erbot sich Ikken das Frühstück zu machen. Er wollte Aylal zeigen, dass er ein mindestens ebenso guter Koch sei wie KeYNamM. Der Hirsebrei mit Eiern gelang gut, aber Aylal hatte trotzdem etwas auszusetzen, „KeYNamM-babas Brei schmeckte besser, du hast ihn versalzen!" Ikken quittierte die Kritik seines Bruders mit einer Kopfnuss.
Während Ikken das Frühstück zubereitete, hatte KeYNamM zwei Bogenhölzer aus dem Versteck geholt und sie mit Schnüren als Sehnen gespannt. Den mannshohen Bogen hatte er für sich selbst ausgesucht, den etwas kürzeren für Ikken. Als Aylal protestierte „und wo bleibt meiner?", vertröstete er ihn. „Den muss ich erst machen! Du brauchst einen kleineren Bogen, die beiden sind ja größer als du!"
Nach dem Frühstück zeigte er Ikken wie Pfeile zusammengebaut wurden. In das Ende des Schaftes kerbte er eine Nocke für die Bogensehne, davor klebte er Federfahnen mit Baumpech fest. Die Spitze aus Metall befestigte er am Anfang. Dazu steckte er die Zunge der Spitze in einen Spalt am Anfang des Pfeils und umwickelte dann die Stelle mit einer pechgetränkten Schnur.
„Warum klebst du die Spitze fest?", wollte Ikken wissen, der KeYNamM's Arbeit aufmerksam beobachtete.
„Damit die Spitze im Schaft hält und später zusammen mit dem Schaft aus der Wunde herausgezogen werden kann. Dies sind nämlich Metallspitzen und ich kann keine von ihnen verlieren", belehrte er Ikken. „Die Pfeile mit Metallspitzen sind zum Jagen und zur Verteidigung. Gleich werden wir noch Übungspfeile machen, die brauchen wir dringend, da ich schon fast ein Jahr nicht mehr mit Pfeil und Bogen gejagt habe. Ich muss erst zielen üben. Und du Ikken? Bist du ein guter Schütze?"
Der schüttelte mit dem Kopf. „Glaub ich nicht! In der Stadt schießen wir nie mit Pfeil und Bogen!" Dann bettelte er: „Bringst du mir das Schießen bei?"
Die Übungspfeile hatten keine Metallspitze. Ihr Schaft wurde lediglich angespitzt, die Spitzen im Feuer gehärtet und dann mit Schnur so umwickelt, bis die Jagd- und die Übungspfeile etwa gleich schwer und ähnlich ausbalanciert waren. Dabei durfte Ikken KeYNamM helfen. Beide fertigten jeweils die gleiche Anzahl von Übungspfeilen an.
„Und auf was zielen wir?" Ikken schaute sich um, „auf den Baum dort?", und er sah KeYNamM fragend an.
„Nein, nein! Der Stamm ist viel zu hart. In ihm würden unsere Übungspfeile kaum steckenbleiben. Außerdem müssen wir dann die Pfeile, die daneben gehen, im Wald dahinter suchen!"
„Das mach ich!", rief Aylal, der mit einem Büschel Blumen vom Flussufer zurückkam.
„Ich weiß etwas Besseres. Wir bauen uns einen Mann aus Schilf. Den können wir auf der Wiese aufstellen und aus verschiedenen Entfernungen auf ihn schießen."
Als das mannshohe Bündel Schilf auf der Wiese stand, zog KeYNamM ein unzufriedenes Gesicht! „Wir müssen eine Markierung genau dort anbringen, wo bei einem Mann das Herz sitzen würde! Diese Stelle ist unser Ziel! Das müssen wir treffen!"
Ikken sah KeYNamM an, dass der scharf überlegte. Dann hellte sich dessen Gesicht plötzlich auf. Er strahlte nun förmlich. Er zog sein Hemd über den Kopf. „Gib mir dein Messer Ikken!" Mit ein paar schnellen Schnitten trennte er das Zeichen des Imperiums, das grüne Pentagramm im roten Dreieck, aus dem Hemd und befestigte es auf dem Schilfbündel! „Hier! Das ist das Herz des Imperators! Mit jedem Treffer töten wir den Unterdrücker und seine Knechte!"
Zuerst verstand Ikken nicht, was KeYNamM damit meinte. Aber als er den ersten Pfeil auf das Ziel abschoss und das Pentagramm, das Herz des Imperators, durchlöcherte, verstand Ikken. Er begann begeistert zu brüllen. „Getroffen! Getroffen! Der Imperator ist tot, der Gouverneur ist tot und all seine Knechte! Sie sind tot! Wir haben sie getroffen!"
Nun begann auch Ikken Pfeil auf Pfeil auf das Ziel zu schießen. Bei jedem Treffer jubelte er: „Für meinem Vater! Für meinen Vater! Tod dem Gouverneur! Tod dem Imperator!" Aylal, der den beiden zusah, bekam allmählich Angst. Er klammerte sich an KeYNamM. „Warum macht ihr das? Was hat euch der Imperator getan? Was hat euch der Gouverneur angetan? Menschen schießen doch nicht auf Menschen."
Plötzlich landeten drei Enten auf dem schmalen Grasstreifen zwischen dem Fluss Draa und dem Uferwald, eine Ente und zwei Erpel. Die beiden Erpel stürzten sich sofort auf die Ente, um sie zu besitzen. Dabei behinderten sie sich gegenseitig und begannen wütend miteinander zu kämpfen. Ikken, der noch einen Übungspfeil übrig hatte, zielte auf die Raufenden. Glück oder Können, er traf einen der Erpel und verletzte ihn so stark, dass Aylal ihn fangen konnte. Fürs Abendessen war gesorgt!
Aylal leckte sich die Finger, als nur noch die abgenagten Knochen vom Entenbraten übrig waren, rülpste dann laut und als ihn weder KeYNamM noch Ikken rügte, trollte er sich gähnend in den Unterstand. Dort rollte er sich in der hintersten Ecke zusammen, rief noch „Gute Nacht" und begann sofort zu schnarchen.
Im Zwielicht der nahenden Dämmerung ging KeYNamM den schmalen Pfad zum Draa hinunter, setzte sich auf einen angeschwemmten Baumstamm am Ufer und begann die Pläne für seine nächsten Schritte noch einmal durchzugehen. Plötzlich schreckten ihn leise Schritte aus seinen Gedanken. Ikken tauchte im Dunkeln auf. „Komm, setz dich Ikken. Hier!", er klopfte auf den Stamm direkt neben sich. Ikken setzte sich, aber als er aus Versehen KeYNamM anstieß, fuhr er hoch und rückte ein Stück weg.
Nach einer Weile räusperte sich Ikken und fragte unsicher. „Weißt du eigentlich warum Aylal dich Baba nennt, Vater, KeYNamM-baba?"
„Nicht wirklich! Dein Bruder hat es angedeutet, aber ich habe ihn nicht verstanden. Sag du es mir bitte." Ikken schwieg weiter! Da erzählte KeYNamM, was er von Aylal erfahren hatte. „Auf dem Platz vor der Brunnenkammer hättest du gesagt, der Mann dort sieht aus wie Baba. Schau genau hin Aylal, schau er ist so groß wie Baba, hat seine Haare und geht wie er. Schau wie er mit den Armen schlenkert, wie Baba! Warum hast du das gesagt, Ikken?", fragte er vorsichtig.
Ikken schwieg lange. „Aylal hätte es dir nicht sagen dürfen! Ich habe es ihm doch verboten. Ich habe ihm jedoch nicht alles gesagt." Dann zögerte er erneut. „Dein Gesicht sah ich zum ersten Mal in der Brunnenkammer. Du hast durch das Gitter auf uns heruntergeblickt. Das hat mich erschreckt, dein Gesicht sah aus, wie das von Vater, als ich ihn zum letzten Mal im Gefängnis besuchen durfte. Es war bleich, erschöpft, voll von Sorgen! Ich dachte Vater ist zurück, zurück als Geist. Aber dann bist du zurückgeschreckt und dann habe ich erkannt, dass du der Mann von der Himmelsleiter bist, der Amestan, der dem Tod entkommen ist." Erst nach einer langen Pause fuhr er fort. „Ich kannte den Gouverneur und kannte ihn gut und wusste, dass du ohne Hilfe verloren bist!"
„Aber dein Vater ist doch nur fort gegangen! Aylal sagt immer: Baba ist einfach fort, er ist vor bösen Menschen weggelaufen, er hat uns nicht im Stich gelassen! Ja, Baba ist weg und er kommt wieder! Aber die bösen Menschen müssen zuerst weg!"
„Ich musste das Aylal so erzählen! Nur das, nicht was wirklich geschehen ist! Vater hat mir das Versprechen abgenommen, ihm nur das zu sagen!" Ikken schwieg lange, „Vater ist nicht weggegangen! Er hätte uns nie allein gelassen, mich und Aylal! Nein! Der Gouverneur hat ihn uns genommen! Der Gouverneur ließ ihn ermorden!"
Als KeYNamM nichts sagte, erklärte Ikken. „Jetzt weißt du, warum ich heute voller Wut auf die Schilfpuppe geschlossen habe! Ich habe den Gouverneur erschossen! Ich habe meinen Vater gerächt!" Dann schwieg Ikken verbittert und rückte ganz nahe an KeYNamM heran, als brauche er Kraft und Schutz.
"Willst du wissen, warum der Gouverneur meinen Vater umgebracht hat?" Ikken wartete KeYNamM's Antwort nicht ab. „Vater hatte im Soukh einen Stand. Bei ihm gab es die süßesten Trauben, die saftigsten Datteln, die reifsten Feigen im Sommer und das beste Trockenobst im Winter. Das ganze Jahr über verkaufte er frisches Gemüse und duftende Kräuter aus den Bergen. Er hatte Kunden von mittags bis spät in die Nacht. In der Morgendämmerung ging er jeden Tag hinaus vor die Stadt in unseren Garten, wässerte die Beete und holte frische Früchte für den Tag. Wenn er zurückkam, warteten schon die Hausfrauen und drängten sich um seinen Stand.
Eines Tages kam er Gouverneur mit seinem Diener auf einem Inspektionsgang vorbei, nahm sich eine der tiefblauen Trauben. Er kostete die Beeren im Weitergehen und blieb erstaunt stehen. Er schickte seinen Diener zurück und lies meinem Vater ausrichten. „Mein Herr möchte noch mehr Trauben! Sie schmecken ihm besser als alle, die er bisher gekostet hat!"
„Das sind Trauben aus meinem Garten. Die Weinstöcke hat mein Vater gepflanzt, Gott hab ihn selig. Ich habe sie gewässert und beschnitten und jetzt, jetzt tragen sie die süßesten Trauben der ganzen Stadt."
Drei Tage später kam der Gouverneur wieder auf den Markt. Diesmal ging er gezielt auf Vaters Stand zu, probierte die verschiedenen Früchte, leckte sich die Lippen, „Deine Trauben sind wirklich die köstlichsten auf dem Soukh, deine Datteln die süßesten und die Feigen die saftigsten. Wo ist dein Garten? Oben in den Bergen? Liegt er morgens in der Sonne und mittags im Schatten der Bäume und nachts im Mondlicht? Hat er eine eigene Quelle und wird der Boden von dem rieselnden Wasser in den Kanälen gesättigt?"
„Ja hoher Herr! Das alles trifft zu und noch mehr. Er liegt in einem kleinem Tal, geschützt vorm heißen Mittagswind. Morgens singen die Lerchen und nachts die Nachtigallen und am Tag gurren dort die Tauben."
„Das ist der Garten, den ich mir schon immer wünsche." Lachte der Gouverneur, zog einen Beutel aus der Tasche, schüttelte die Kristalle auf seine Handfläche, dass sie in der Sonne glitzerten. „Hier, schau wie sie glitzern. Sie alle sollen dein sein, wenn du mir den Garten verkaufst!"
„Nein, nein Gouverneur! Der Garten ist unverkäuflich! Ich habe ihn von meinem Vater geerbt und der von seinem Vater und der wiederum von seinem Vater. Der Garten gehörte meiner Familie noch bevor die Stadt gegründet wurde! Er ist unverkäuflich!" Ikken schwieg einen Augenblick. „Ab diesem Tag kam der Gouverneur jeden Tag zu meinen Vater an den Stand, brachte mehr und mehr Kristalle mit und versuchte so meinen Vater zum Verkauf zu überreden. Der aber blieb standhaft."
„Als alles Überreden nichts nützte, heckte der Gouverneur einen tiefschwarzen Plan aus." Ikken schnaubte verächtlich. „Er versprach einem Dieb, den er gerade verurteilt hatte, dass er ihn frei ließe, wenn er einen Beutel Kristalle in meines Vaters Haus verstecken würde. Der tat es, als mein Vater morgens im Garten frische Früchte holte. Als Vater mittags voll bepackt zurückkam, warteten schon Polizisten vor dem Haus und beschuldigte ihn, beim Gouverneur eingebrochen zu sein, den Schlafenden niedergeschlagen und gefesselt zu haben und dann mit einem Beutel voll Kristallen geflohen zu sein. Mein Vater protestierte aufs Heftigste. Da er sich keiner Schuld bewusst war, erlaubte er den Polizisten sein Haus zu durchsuchen. Natürlich fanden sie den Beutel mit Kristallen unter dem Bett, wo ihn der Dieb versteckt hatte! Sie verhafteten meinen Vater unverzüglich und warfen ihn in den Kerker!"
„Wo bliebt ihr? Wo war eure Mutter? Haben die Nachbarn und Freunde deinem Vater nicht geholfen?", fragte KeYNamM erschrocken über soviel Niedertracht.
„Mutter war schon lange tot. Sie starb als Aylal zur Welt kam. Vater hat uns zusammen mit unserer alten, halbblinden Muhme großgezogen. Er war der beste Vater der Welt!" Ikken schluchzte leise, „Als sie Vater gefangen nahmen, war Aylal gerade drei und ich acht Jahre alt. Wir blieben bei der blinden Tante, denn niemand sonst wollte uns haben. Der Gouverneur selbst machte meinem Vater den Prozess, nicht der Richter. Der Prozess ging aus wie er es wollte! Er beschlagnahmte unser Haus, unseren Stand im Soukh und natürlich den Garten als Strafe für den angeblichen Diebstahl. Dafür, dass er ihn angeblich niedergeschlagen hatte, wurde mein Vater zum Tode verurteilt.
Die Hinrichtung ließ Gouverneur Gwasila noch am Abend nach der Verurteilung ausführen. Den einzigen Gnadenerweis, den er meinem Vater gewährte, war ein Besuch von mir im Kerker." Ikken schluchzte auf, sprach aber dann tapfer weiter. „Beim Abschied bat mich mein Vater: Sag Aylal nur, dass ich fort gegangen bin! Sag deinem Bruder erst wenn er groß ist, dass es der Gouverneur war, der mich ermorden ließ! Versprich es und pass auf deinen Bruder auf, wie ich es tun würde!" Ikken schwieg kurz. Verzweifelt und voll Hass fügte er dann hinzu: „Noch am Abend ließ der Gouverneur meinen Vater von seinen Häschern vom Berg in die Knochenschlucht stürzen. Dort haben ihn die Hunde tot gebissen und Schakale seinen Leichnam gefressen. Ich konnte nicht einmal seine Knochen begraben."
KeYNamM nahm Ikken in den Arm. Der Bericht hatte ihn aufgewühlt und wütend gemacht. „Der Gouverneur hat gegen alle Gesetze der Menschen, ja selbst des Imperiums verstoßen! Hat ihn denn niemand daran gehindert, nicht der Richter, nicht der Stadthauptmann?" Nach langer Pause sagte KeYNamM feierlich: „Der Gouverneur hat den Tod verdient!"
Ikken klammerte sich an KeYNamM, verzweifelt und traurig von der Erinnerung. Doch dann sagte er mit klarer Stimme: „Ich konnte dich doch nicht auch sterben lassen! Ich musste dich befreien! Du durftest nicht sterben wie Baba!" Jetzt wusste der König vom Unland, dass er den Vater von Ikken und Aylal rächen musste. Rache am Gouverneur, an der Stadt und am Imperium.