Erst als die Sterne schon am mondlosen Himmel leuchteten, kamen Tirizi, die Herbergsmutter, und ihre Mädchen durchs Tor. Sie alle waren in lange, schattenblaue Umhänge gehüllt, hatten die Haare mit Spitzentüchern bedeckt und der Klang von schweren silbernen Halsketten begleitete ihre Schritte. Die Herbergsmutter, die die Gruppe anführte, blieb mitten im Hof stehen, „Freunde! Fremde! Gäste! Heute ist ein trauriger Tag. Wir haben unsere Rosenknospe zu Grabe getragen, Tadla, meine jüngste Tochter. Sie zählte noch nicht einmal vierzehn Jahre! Sie wurde vom Baum des Lebens geschnitten, sie ist verwelkt, sie wird niemals mehr Aufblühen! Euch meine Freunde und euch Fremde …", dabei sah sie zu KeYNamM hinüber, „… lade ich ein, unserer Rosenknospe mit einer kleinen Feier zu gedenken, eine Feier wie Tadla sie liebte!" Damit öffnete sie die Wirtsstube und lud alle ein einzutreten.
Tanan hatte sich gewünscht, dass ihn seine Mutter sofort erkennen und in die Arme schließen würde. Er hatte sich getäuscht, natürlich! Woher sollte sie auch wissen, dass der junge Mann am Tisch in einer dunklen Ecke der Wirtsstube ihr Tanan, ihr Sohn, war? Tirizi und ihre Mädchen machten sich zunächst bei den anderen Gästen zu schaffen und beluden die Tische mit Speisen und Getränken. Jeden Anwesenden bewirteten Tanan's Mutter Tadla zu Ehren wie einen König. Erst spät wurde die Herbergsmutter auf den Fremden aufmerksam, der mit seinen jungen Begleitern von seinem Tisch im Halbdunkel die Geschehnisse im Gastraum gespannt beobachtete.
Tanan war unruhig. Er rutschte auf seinem Stuhl hin und her und Schweißtropfen hatten sich auf seiner Stirn gebildet. Endlich kam seine Mutter an ihren Tisch. „Fremder …", begrüßte Tirizi den Amestan, „… sicher haben du und deine prächtigen Söhne schon von dem Unglück gehört, welches unsere Rosenknospe getroffen hat. Seid trotzdem willkommen, Ihr Tod darf uns nicht vom Leben abhalten." Sie schwieg einen Augenblick, dann neigte sie kurz ihr Haupt, „Mein Name ist Tirizi. Das heißt „Hell wie der Mond"! Aber heute ist meine Seele verdunkelt!", sie musterte KeYNamM, „Aber wie heißt du, Herr. Denn ein Herr bist du wohl, obwohl du dich als Bauer verkleidet hast!" Der Amestan schaute zu ihr hoch, „Ich habe keinen Namen und sie nennen mich daher „KeYNamM", der „der ohne Namen" ist. Aber diese Beiden haben einen Namen. Dies ist Ikken, der Sohn König Gaya's, des Vorfahren aller Wüstensöhne." Dann forderte er Tanan mit einer Geste auf sich zu erheben und vor die Herbergsmutter zu treten. „Den solltest du jedoch kennen, Tirizi!" Als die Herbergsmutter Tanan verwundert anblickte und dann ratlos auf KeYNamM blickte, fuhr der Amestan fort. „Er wird Tanan genannt. Erinnerst du dich an den Namen „Tanan"? Erinnerst du dich an einen den du selbst Tanan genannt hast? Erinnere dich und deine Seele wird nicht mehr trauern!"
Tirizi schloss die Augen und versuchte sich zu erinnern. Sie erinnerte sich an den Namen, aber der starke junge Mann konnte es nicht sein, nein, niemals, ihr kleiner Tanan! Nein, nein, nein!! Dann aber blieb ihr fast das Herz stehen, als KeYNamM fortfuhr, „Ja, es ist dein Tanan, dein Sohn! Schau ihn genau an! Erkennst du ihn? Er wartet schon mehr als zehn Jahre darauf, dass du ihn in die Arme schließt! Hier!" Damit stieß er Tanan vorwärts, sodass sich Mutter und Sohn direkt in die Arme fielen und fügte dann hinzu, „Erkennst du ihn jetzt, deinen Sohn Tanan? Deinen Tanan!"
Plötzlich ergoss sich ein Strom von Tränen aus Tirizi's Augen. Sie breitet ihre Arme aus und fiel ihrem Sohn um den Hals. Sie war wirklich klein, kleiner als Tanan. Da stand der junge Mann nun, hielt seine Mutter in den Armen und wusste nicht, was er als nächstes tun sollte, vor Freude lachen oder vor Rührung weinen. Tanan entschied sich für ersteres. Er strahlte, seine Augen strahlten, sein Gesicht strahlte, sein ganze Körper begann zu strahlen, er schien zu wachsen, er hob seine Mutter hoch, wirbelte sie im Kreis und als beiden schwindlig wurden, plumpste er in den nächsten Stuhl, seine Mutter noch immer in den Armen.
Tirizi fasste sich endlich. Sie küsste Tanan auf die Stirn und umarmte ihn dann so fest, dass ihm beinahe die Luft wegblieb. Unter Freudentränen fragte sie KeYNamM, „Hast du gemacht, dass wir uns endlich wieder sehen, Fremder? Hast du bewirkt, dass er mich endlich besucht, obwohl ich mich solange nicht um ihn gekümmert habe?" Als KeYNamM den Kopf schüttelte, setzte sie hinzu, „War er es der mich suchte? Ich habe ihn nie vergessen, aber ich fürchtete, dass er mich nach so langer Zeit nicht sehen will. Aber das war es nicht allein! Ich fürchtete, dass er mich ablehnt, weil ich so ein Haus führe, weil ich diese Vergangenheit habe."
„Tanan ist ein großartiger Junge. Frage Ikken meinen Sohn. Die beiden brauchten nur einen Tag, um gute Freunde zu werden. Frag die Menschen in deiner Heimat am Draa, die halten alle große Stücke auf Tanan."
Da nahm Tirizi Ikken's Hand. „Ihr seid Freunde?", sie wartete nicht auf seine Antwort, „Ihr seid Freunde! Ich sehe es! Ihr ergänzt euch wie Sonne und Mond, wie Sommer und Winter, das sehe ich. Ich danke dir Gaya's Sohn."
Tirizi war plötzlich vollständig verwandelt! Sie strahlte trotz Tränen in den Augen. Sie kletterte auf den nächsten Tisch: Sie klatschte in die Hände! „Gäste!", rief sie, „Heute ist wahrlich ein trauriger Tag. Wir haben unsere Rosenknospe zu Grabe getragen. Sie wurde vom Zweig geschnitten und wird niemals Aufblühen!" Als alle Gäste zu ihr aufblickten, fuhr sie fort, „Heute ist aber auch ein freudiger Tag, der freudigste meines Lebens. Hier!", sie zeigte auf Tanan, zog ihn zu sich auf den Tisch hinauf und sagte voller Stolz, „Stell dich neben mich mein Sohn Tanan, stell dich neben deine Mutter." Dann rief sie in die Wirtsstube „Hier! Das ist Tanan, mein Sohn, den ich so lange vermissen musste!" Sie schaute zu ihm auf, denn er war mindestens einen halben Kopf größer als sie, „Hier, seht ihr den schönsten und besten Sohn, den eine Mutter haben kann! Er hat mich gesucht und gefunden. Nicht ich habe ihn gesucht, er hat mich gesucht! Er liebt mich, er liebt mich wirklich!" Sie strahlte noch einmal in die Runde, „Feiert Freunde, seid heute meine Gäste! Feiert mit uns! Feiert, denn so ein Tag kehrt nicht sooft wieder, ein Tag an dem Trauer und Freude so nahe beieinander liegen!"
Die Feier war zu Ende. Tanan und Ikken hatten sich zurückgezogen und schliefen schon. Erst jetzt konnte sich KeYNamM die Zeit nehmen, Tanan's Mutter kritische Fragen zu stellen. „Tirizi, warum hast du Tanan als Kleinkind weggegeben? Du liebst ihn doch!"
„Damals!" seufzte sie, „Damals, konnte ich nicht anders. Wenn ich ihn nicht bei meinen Eltern in Sicherheit gebracht hätte, wäre er jetzt tot. Das Todesurteil stand schon fest und Schergen warteten an der Tür!"
„Wer kann so grausam sein, ein Kind ermorden zu wollen? … Wer?", bohrte er nach, als sie schwieg.
„Wer, wer hat die Macht in diesem Land? Wer setzt diese Macht in dieser Stadt durch? Wer leitet daraus die Macht ab, Menschen ungesühnt zu töten? Wer hat Rosenknospe getötet? Du kennst den Namen! Wer diesen Namen in Zusammenhang mit dem Mord an Tadla bringt, bringt sich selbst in Gefahr! Ich schweige!" Dann nach einen Moment des Nachdenkens, „Es ist besser, du nimmst Tanan wieder mit. Geh KeYNamM, nimm Ikken mit, nimm Tanan mit! Euch sucht er, das weiß ich. Und Tanan, mein lieber Tanan? Ich weiß nicht, ob das Urteil von damals noch weiter besteht!"
Als KeYNamM in das Zimmer ging, indem Ikken und Tanan eng aneinandergedrückt schliefen, wusste er, der Gouverneur muss sterben, je früher, desto besser!
Am nächsten Morgen wurde in aller Früh an das verschlossene Tor der Herberge „Zum Durstigen Kamel" gehämmert. Tirizi, ihre Mädchen, ihre Hausdiener und die Gäste der Herberge wurden durch das Poltern aus dem Schlaf gerissen. Noch bevor einer der Hausdiener am Tor war, spähte Tirizi schon durch ein geheimes Guckloch nach draußen. Sie war besorgt. Im Traum hatte sie Tanan im Haus des Gouverneurs gesehen. Ihr Sohn stand vor ihm und hielt etwas Blinkendes in der rechten Hand. Sie glaubte an Vorahnungen. Was hatte Tanan im Haus des Gouverneurs zu schaffen?
Durch das Guckloch sah sie zwei Polizisten. Sie erschrak, kamen sie um Tanan abzuholen? Hatte sich seine Ankunft schon bis zum Gouverneur herumgesprochen? Dann wurde sie jedoch ruhiger. Die beiden Männer waren nicht Häscher des Gouverneurs, sondern der Kleidung nach Stadtpolizisten. In ihrer Mitte stand ein junger Mann. Er hatte zwar noch nie ihre Herberge besucht, sie erkannte ihn aber sofort. Es war Ankläger Anir, der junge Staatsanwalt von Tinghir. Sie hatte bisher nur gutes von ihm gehört. Wenn der dabei war, ging es wohl um den Mord an Tadla, schloss sie haarscharf, und nicht um ihren Sohn.
Der Hausdiener öffnete das Tor. Tirizi lief in den Hof, hieß die frühen Gäste willkommen und bat sie in die Gaststube. Während die beiden Polizisten am Eingang zur Gaststube Aufstellung nahmen, kam der Ankläger mit hinein. Da die geräumige Wirtsstube noch unaufgeräumt war, bat sie ihn in ihre eigene kleine Wohnstube dahinter. „Was verschafft mir die Ehre, Herr Staatsanwalt? So früh? Wir haben gestern Abend Abschied von Rosenknospe genommen. So jung und schon aus dem Leben gerissen! Sie war meine liebste Tochter!"
„Ja, die Polizisten kannten sie. Sie beschworen, dass Tadla wirklich so jung und schön war, wie du sagst, Tirizi, dazu wohlerzogen, scheu und zuverlässig. Sie soll hier nur gearbeitet haben, um ihre alten Eltern im Grenzland zu unterstützen!" Tirizi fiel ein Stein vom Herzen. Es ging nicht um Tanan, sondern wirklich um Rosenknospe. Als sie aufseufzte, fuhr Anir fort, „Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein so wohlerzogenes Mädchen sich ohne Not in eine Gefahr begibt, die mit ihrem Tod endet. Ich muss die Vorgeschichte wissen, damit ich die Untersuchung mit Aussicht auf Erfolg führen kann."
KeYNamM, der dem Gespräch vom Nebenzimmer aus zugehört hatte, betrat jetzt das Wohnzimmer, verbeugt sich leicht vor dem frühen Gast und setzte sich ihm gegenüber neben Tirizi an den Tisch, als gehöre er zur Familie. Das erstaunte Anir, da die gut unterrichteten Polizisten ihm versichert hatten, dass die Herbergsmutter allein lebe. Interessiert begann er KeYNamM's Gesicht zu studieren. Ihm fielen zuerst die wachen Augen des Mannes auf. Sie prüften sein Gesicht so intensiv und gespannt, wie er das seines Gegenübers prüfte. Woher kenne ich ihn, dachte der Ankläger, woher bin ich so sicher, dass ich mit dem Mann schon zu tun hatte?
Als Tirizi den Namen des Gastes nannte, „KeYNamM", erinnerte er sich augenblicklich. KeYNamM, der Amestan, der König vom Unland war das also! Aber der, der ihm jetzt gegenüber saß, war nicht mehr der, dessen Tod der Gouverneur unbedingt wollte. Der Mann, der jetzt vor ihm saß, sah aus, als wäre er aus dem Jungbrunnen gestiegen. Sein Gesicht war glatt, bartlos und sauber, die Haare ordentlich geschnitten, nur kraus vom Schlaf. Aber seine Haltung war genau so wie damals vor dem falschen Schwurgericht. Erst jetzt bemerkte Anir, dass sein Gegenüber ihn auch erkannt hatte, aber er konnte keine Angst in seinen Augen entdecken, nur Wachsamkeit.
Anir war so in Gedanken gewesen, dass er den Gesprächsverlauf nicht gefolgt war. „Was sagtest du gerade Tirizi? Tadla wollt nur zum Soukh und dort Perlen für eine Kette zu kaufen? Dort bieten viele Händler Glasperlen feil. Weißt du welchen sie aufsuchte?"
„Ja. Als sie bei Einbruch der Dunkelheit nicht zurück war, habe ich den Diener zum Soukh geschickt. Tadla hat an einem der Stände Perlen gekauft und an einem anderen Faden. Beide Händler sahen dann wie sie den Soukh verließ und sich auf den Heimweg machte. Wir suchten den ganzen Rückweg ab und fragten die Anwohner, ob sie Tadla gesehen hätten. Die Bewohner der ersten Häuser hatten sie gesehen. Aber die Bewohner der Häuser zwischen dem steil ansteigenden Weg, der zum Plateau hinter der Gouverneursvilla führt, und der Herberge nicht mehr."
„Habt ihr den Weg zum Plateau abgesucht?"
Bevor Tirizi antworten konnte, öffnete sich die Tür zum Wohnzimmer erneut. Zwei Jungen standen hintereinander in der Türöffnung. Der vorne, ein kräftiger Halbwüchsiger mit dunklen Locken, lächelte Anir mit seinen kohlschwarzen Augen ohne Scheu an, der dahinter, hochgeschossen und mit fast blonden Haaren, richtete seine graublauen Augen kritisch auf ihn. Anir schätzte sie auf vierzehn oder fünfzehn.
Waren es Brüder? Auf den ersten Blick, würde er sie nicht für Geschwister halten. Daher war er erstaunt, als KeYNamM sie mit „Meine Söhne!" vorstellte, ohne jedoch ihren Namen zu nennen. Die beiden setzten sich an den Tisch, der dunkelhaarige neben Tirizi, der hellhaarige neben den Amestan. Das passt schon besser, dachte der Ankläger, denn der dunkelhaarige ähnelte der Herbergsmutter und der hellhaarige dem Amestan. Der Anblick der beiden, war für ihn der Lichtblick am frühen Morgen, trotz der traurigen Aufgabe, die ihm bevorstand.
Anir war stolz darauf, dass er die Fähigkeit entwickelt hatte, den Charakter von Menschen schnell einschätzen zu können und an den Vier, die ihm gegenüber saßen, fand er keine Falschheit. Folgerichtig wollte er den Amestan gerade fragen, „Sind beide wirklich deine Söhne oder doch nicht nur der Blonde?", als die Tür von der Wirtsstube zum Wohnzimmer aufflog und einer der Polizisten hereinplatzte. „Der Gouverneur hat einen Boten geschickt. Es ist dringend! Ankläger, Sie sollen schnell zum Gericht kommen, dort wartet ein wichtiger Fall. Der Tod der jungen Nutte sei jetzt Nebensache, lässt er ausrichten!"
Tirizi protestierte vehement, „Tadla war kein Freudenmädchen, sie war eine Tänzerin, eine die mit ihren Aufführungen jedermann erfreute." Dann wandte sie sich an Anir. „Staatsanwalt, der bestialische Mord an diesem unschuldigen Mädchen muss gerächt werden! Es gibt nichts was wichtiger ist, denn wird eine der Blüten des Landes hingeschlachtet ohne gerächt zu werden, dann sind keine Rosenknospen in unserem Land mehr sicher!" Sie schluckte einen Augenblick, „Staatsanwalt, Ankläger Anir! Sucht den Mörder! Es sind in dieser Stadt schon zu viele Rosen geköpft worden, ohne dass je ihr Mörder dingfest gemacht wurde!"
Auch KeYNamM starrte wütend auf den Ankläger und stieß dann hervor, „Sag Ankläger, frag den Vertreter des Imperators, frag ihn! Deckt er den Mörder oder hat er die Mädchen selbst hingeschlachtet und über die Stadtmauer den wilden Tieren zum Fraß vorgeworfen? Und auch die Knaben? Seine Vorliebe für unschuldige Mädchen und kleine Jungen sind in der ganzen Stadt bekannt. Auch dir sollten inzwischen die Gerüchte über geschändete Mädchen und hingeschlachtete Jungen nicht verborgen geblieben sein!"
„Was unterstellst du mir, Amestan! Was unterstellst du dem Gouverneur? Warum bist du eigentlich nach Tinghir gekommen? Du weißt, ich könnte dich sofort festnehmen lassen, denn du wirst immer noch gesucht", dann schwieg er kurz, „Was den Gouverneur angeht, so fehlen dir die Beweise! Ohne Beweise kann niemand angeklagt und verurteilt werden!"
„Mit diesen Worten gibst du selbst zu, dass du einen ähnlichen Verdacht hegst!" Da Anir schwieg, fuhr der Amestan fort, „Du brauchst nicht zu antworten. Ich weiß, du wirst dein Bestes tun. Du wirst den Mörder von Tadla überführen! Du wirst den Mörder all der Mädchen und Jungen finden, die geschändet und tot am Fuß der Stadtmauer gefunden wurden. Dessen bin ich sicher Ankläger! Hast du überlegt, warum die Leichen immer an einer Stelle über die Stadtmauer geworfen werden, an einer Stelle, die von der Gouverneursvilla ungesehen erreicht werden kann?"
Tirizi ergänzte, „Falls du das nicht weißt Ankläger, Tadla's Leiche war nicht die erste, die dort gefunden wurde. Frag deine Polizisten, frag den Stadthauptmann! Schon zehn oder zwölf geschändete Körper sind an dieser Stelle aufgefunden worden."
Als der Polizist zum zweiten Mal den Kopf durch den Türspalt steckte, verabschiedete der Ankläger Anir sich mit den Worten, „Wir sehen uns wieder!" Dann wandte er sich an die beiden Jungen, machte ein besorgtes Gesicht, „Seid vorsichtig, ihr habt das Leben noch vor euch!"
Seit dem Moment, an dem der Körper der toten Tadla am Fuß der Mauer entdeckt worden war, schwirrten Gerüchte über den Mord das junge Mädchen durch Tinghir. Alle fragten sich, „Warum wurde gerade sie ermordet?" Frömmelnde Weiber fragten: „War es ihr Lebenswandel? Was musste sie als Tänzerin auch die Männer aufreizen?" Unvoreingenommene Frauen oder solche, die Tadla gut kannten, fragten „War es ihre Schönheit? War es ihre Freundlichkeit? Ihr entgegenkommendes Wesen? Ihre Gutgläubigkeit?" Andere wiederum fragten, „War sie ein Zufallsopfer?" Alle aber, Bigotte, Unvoreingenommene, Freunde und Bekannte, ja sogar völlig Fremde, waren sich einig, dass eine Bestie den Mord begangen haben musste, eine Bestie in Menschengestalt und kein böser Geist. Die, die sich erinnern konnten, und das waren nicht wenige, fragten sich: „Ist Tadla das zehnte oder zwölfte unschuldige Opfer, welches dort am Fuß der Mauer gefunden wurde? Treibt ein Serienmörder sein Unwesen in der Stadt, der seine Mordgier an den unschuldigen Mädchen und zarten Jungen der Stadt auslebt?"
KeYNamM versuchte soviel wie möglich über die Morde zu erfahren. Daher wandte er sich an Tirizi. Die rief einen alten Hausdiener und zwei ihrer langjährigen Töchter, die schon lange in Tinghir lebten, ins Wohnzimmer. Sie sollten berichteten, an welche Morde sie sich erinnern konnten. Tirizi wollte versuchen das Bild zu vervollständigen.
Bald war der Amestan in der Lage sich ein ziemlich genaues Bild von den Morden der letzten zwei Dutzend Jahre zu machen. Dabei zeigte sich, dass eine Vielzahl der unaufgeklärten Morde deutliche Ähnlichkeiten mit dem Mord an Tadla aufwiesen.
Für eine Mordserie sprachen die Verletzungen der Opfer, die Uhrzeit, zu der die Leichen entdeckt worden waren, der Fundort der Leichen am Fuße der Stadtmauer, der nicht mit dem Ort des Mordens identisch sein konnte. Alle, auch Tadla, mussten in der Stadt, wahrscheinlich in einem Gebäude, ermordet, dann zur Stadtmauer geschafft und über die Mauer geworfen worden sein.
In der Nähe des Fundortes von Tadla's Leiche waren im letzten Jahrzehnt mindestens zehn, vielleicht auch zwölf Ermordete gefunden worden. Über die Zahl waren sich Tirizi und ihre Angestellten nicht ganz einig. „Nur der Stadthauptmann und der Staatsanwalt werden genau wissen wie viele, denn sie führten Buch", meinten sie.
Aber nicht nur der Fundort sprach für eine Mordserie. Alle Ermordeten waren sehr, sehr junge Mädchen oder kleine Jungen. Alle stammten nicht aus der Stadt, sondern kamen von außerhalb und hatten nur kurz in Tinghir gelebt. Die meisten stammten entweder aus dem Grenzland oder dem Unland, was auf den ersten Blick an ihren hellen Haaren und blauen Augen zu erkennen war.
Was sprach darüber hinaus noch für eine Mordserie? Alle waren vor ihrem Tod auf ähnliche Weise bestialisch gemartert und verstümmelt worden. Zuerst wollten weder Tirizi noch die anderen über die Verstümmlungen sprechen, aber dann brach es aus ihnen heraus. „Wie bei Tadla hatte der Mörder seinen Opfern die Brüste abgeschnitten und den Bauch von der Scheide bis zum Nabel aufgeschlitzt, sodass das Gedärm herausquoll. Allen hatte er die Kehle durchschnitten." Als Tirizi dies schluchzend berichtete, liefen ihr die Tränen über die Wangen und sie stöhnte, „Ich bete zu Gott, dass der Sadist ihnen zuerst die Kehle durchgeschnitten und sie erst dann verstümmelt hat."
„Und die kleinen Jungen, wie waren sie verstümmelt?", wollte KeYNamM wissen. Voll Abscheu stöhnte der alte Diener, „Die Jungen? Keiner von Ihnen war über zehn, bestimmt nicht! Unschuldige Kinder!", er schüttelte voller Abscheu den Kopf, „Immer hatte das Monster ihnen den Penis abgeschnitten und die Hoden! Immer hatte das Monster ihnen einen spitzen Holzpfahl in den After gerammt", KeYNamM sah einen erschütterten Mann, „und oftmals fehlten auch ihre Ohren und ihre Nase."
Da KeYNamM genau wissen wollte, wer in der Nähe des Fundortes wohnte, erklärte ihm Tirizi die Örtlichkeiten. „Die Stelle, an der die Ermordeten über die Mauer geworfen wurden, liegt etwa gegenüber dem Brunnenhaus in der Oberstadt. Unterhalb des Brunnenhauses beginnt die eigentliche Stadt, oberhalb liegt nur das Stadthaus, das auch der Amtssitz des Gouverneurs ist, das Gerichtsgebäude und Gefängnis. Dort beginnt auch der Weg hinauf zum Berg über der Stadt. Er führt an drei Häusern vorbei zur Villa des Gouverneurs und weiter hinauf."
„Und hat die Polizei diese Häuser durchsucht, auch das des Gouverneurs?"
„In den drei Häusern wurden nie Spuren gefunden, die von den Morden stammen könnten."
„Und das Stadthaus mit dem Gerichtsgebäude, dessen Zellen oder die Gouverneursvilla. Wurden die durchsucht?"
„Von denen war nie die Rede. Die Polizei durfte das wohl nicht!"
Jetzt machte sich eines der Mädchen bemerkbar, die bisher meist stumm dabeigesessen hatten, „Ich will ja nichts Unwahres in die Welt setzen, aber der Gouverneur hat seltsame Vorlieben. Manche meiner Schwestern kam schon von einer Nacht mit dem Gouverneur zurück und zeigten mir ihre blauen Flecken, ihre Schnittwunden und Verletzungen. Anstatt mit ihnen seinen Spaß zu haben, wurden sie vom Gouverneur gefesselt, gewürgt, geschlagen. Wer einmal zu ihm eingeladen worden war, hat keine zweite Einladung angenommen. Der Gouverneur ist ein Sadist!"
Im Laufe der Besprechung erfuhr KeYNamM von den beiden Mädchen ziemlich genau, wie es in der Gouverneursvilla aussah. Im Unterstock wohnten nur die beiden alten Dienerinnen des Gouverneurs. Die Ältere, Lalla, seine ehemalige Amme, war fast taub aber scharfäugig. Ihre jüngere Schwester, Kella, war halbblind, hatte dafür ein Gehör wie eine Maus. Beide waren scharfzüngig und gemein. Sie bissen jede andere Dienerin, die der Gouverneur einzustellen versuchte, aus dem Haus. Sie waren ihm voll ergeben und beschützten ihn wie eine Glucke ihre Küken. Im Gegenzug ließ der Gouverneur nichts auf die beiden kommen.
Im Oberstock mit dem Ausgang zum Garten, lagen nach vorn zum Pfad auf den Berg hinauf hin, neben einigen Arbeitsräumen, ein Prachtraum, indem der Gouverneur Hof halten und Gäste empfangen konnte. In der rückwärtigen Hälfte des Hauses, also zur Bergwand hin, schien nur der riesige Schlafraum des Gouverneurs zu liegen. Dieser Raum war immer kühl und bekam sein Licht durch kleine Luken hoch oben in der Wand zum Garten. Dieser Raum wäre besser ausgestattet als selbst der Schlafraum des Imperators, berichteten die Mädchen.
Mit dieser Information vor seinem geistigen Auge, überlegte KeYNamM, wie er am unauffälligsten an den Gouverneur herankommen konnte, um ihn unschädlich zu machen. Ein Eindringen durch die Haustür war kaum möglich. Zum einen, weil die Polizei in unregelmäßigen Abständen vor dem Haus patrouillierte und zum anderen weil ein Eindringen durch die Haustür von den beiden Schwestern bemerkt werden konnte, besonders dann, wenn jemand die Treppe zum Oberstock hochstieg. Es blieb also nur der Weg durch den Garten.
Zunächst müsste er also unbemerkt in den Garten eindringen. Er konnte natürlich nicht das Gartentor nehmen, sondern müsste sich vom Plateau oberhalb des Gartens abseilen oder am Ende des Gartens über die Mauer steigen. Dafür benötigte er auf jeden Fall die Hilfe von Ikken, der die Stadt wie seine Hosentaschen kannte. Dann musste er vom Garten her in das Haus eindringen und sich im Dunklen bis zur Tür des Schlafraumes des Gouverneurs vortasten. Alles musste lautlos geschehen. Und was dann?
KeYNamM's ursprünglicher Plan war gewesen, den Gouverneur in aller Öffentlichkeit zur Rede zu stellen, ihn anklagen, ihm die Rechtsverletzungen und Morde vorzuwerfen, ihn so in die Enge zu treiben, dass ihm nichts anderes bliebe, als seine Schuld einzugestehen. KeYNamM wusste, dass dies ein schöner Traum war. Nein, er musste den Gouverneur entweder entführen oder, wenn das nicht möglich wäre, töten oder für seine Verbrechen hinrichten.
Den Gouverneur zu entführen, um ihm anschließend den Prozess zu machen, erschien KeYNamM kaum möglich. Er stand daher vor der Frage, konnte er, KeYNamM, die Tötung, also die Ermordung von Gouverneur Gwasila vor der Öffentlichkeit rechtfertigen, vor allem aber, konnte er sie mit seinem Gewissen vereinbaren?
Lange befragte sich KeYNamM. Dann kam er zum Schluss. Er würde den Gouverneur nicht entführen, er würde ihn an Ort und Stelle töten. Denn des Gouverneurs Tötung war kein Mord, es war die Hinrichtung eines Monsters. Ja! Eindeutig Ja! Es war die Hinrichtung wegen der vielen, vielen Verbrechen, deren sich der Gouverneur im Laufe der Jahre schuldig gemacht hatte.
KeYNamM resümiert nochmals: Gouverneur Gwasila hatte sein Leben verwirkt, wegen der schändlichen Morde an den unschuldigen Mädchen und Jungen; er hatte es verwirkt, wegen der Hinrichtung von Ikken's und Aylal's Vater und ihrer Muhme und der vielen anderen, die er ermorden ließ, weil sie seinen Plänen im Wege standen; er hatte es verwirkt, wegen der Kämpfe auf der Himmelsleiter, bei der er zwei Männer gegeneinander hetzte, nur um den Blutrausch des Stadtvolks zu befriedigen; er hatte es verwirkt wegen der Ausbeutung und Erniedrigung der Gefangenen in der Kristallmine und er hatte es verwirkt wegen der Raubzüge, Vergewaltigungen und Morde, die seine Knechte im Unland am Draa in seinem und des Imperators Namen begangen hatten.
KeYNamM war sich im Klaren darüber, dass er den Gouverneur lautlos, schnell und ohne Erbarmen töten musste. Das Aufdecken der Verbrechen des Gouverneurs, auch des Mordes an Tadla, müsste später geschehen. Er musste es anderen überlassen, beispielsweise dem Ankläger. Ja, Anir der Ankläger war der Richtige. Er musste die Bestialitäten des Ruchlosen ans Tageslicht bringen und dem Imperator bekanntmachen.