Ikken konnte nicht schlafen. KeYNamM hatte Tanan und ihn am Abend in den Plan eingeweiht. „Ich muss euch mitnehmen", erklärte er zum Schluss. Ikken war Feuer und Flamme, Tanan dagegen protestierte. „Ich möchte bei meiner Mutter bleiben! Bitte KeYNamM! Ich habe doch so lange ohne sie leben müssen!", sagte er mit dem Blick eines traurigen Hündchens, „Warum KeYNamM?" Dem Amestan tat das Herz weh, er verstand Tanan. „Aber der Ankläger hat euch mit mir hier gesehen. Er weiß, dass ich den Gouverneur hasse! Er weiß, dass ich ihn für den Serienmörder halte! Den Anschlag wird er mir sicher zuschreiben und da er ein gerechter Mann ist, wird er nach mir suchen, sogar suchen müssen!" Er schaute Tanan fragend an. „Und wo wohl zuerst? Hier!" Nun mischte sich auch Ikken ein. „Auch ich würde hier suchen! Wo denn sonst?" KeYNamM setzte noch hinzu, „Ob der Anschlag gelingt oder nicht, wir müssen aus der Stadt, denn sobald der Tod des Gouverneurs bekannt ist, wird die Polizei die gesamte Stadt auf den Kopf stellen, um die Täter zu finden."
Jetzt, da die Hälfte der Nacht gerade vorbei war, warteten die beiden ungeduldig auf KeYNamM. Wie abgesprochen, nahmen sie nichts mit als ihre Messer und ein dünnes, starkes Seil mit einer Ankerkralle an einem Ende. Der Amestan war besser ausgerüstet. Er hatte den langen, uralten Dolch mit den Gravuren im Gürtel stecken und dann trug er einen kleinen Sack mit einem Feuertopf über der Schulter.
Ikken führte KeYNamM und Tanan durch kleine Gassen zum Plateau über der Stadt und von dort zur Rückseite der Villa des Gouverneurs. Plötzlich standen sie an der Mauerkrone des Gartens der Gouverneursvilla und konnten zur Villa hinunterblicken. Die Nacht war ruhig, kein Laut drang aus dem Haus, kein Lichtschimmer deutete darauf hin, dass jemand noch wach war. Da ein sicherer Fluchtweg notwendig war, schien es nicht sinnvoll, sich von oben in den Garten abzuseilen. Sie schlichen daher an der Mauer entlang bis zu ihrem Ende, rutschten dann den steilen Trampelpfad, der an der Gartenmauer entlangführte, hinunter bis zu der Stelle, wo ein hoher Baum seine Äste über die Mauer reckte. KeYNamM warf das Seil in den Baum. Als die Ankerkralle an einem dicken Ast verankert war, kletterten erst Ikken, dann Tanan und als letzter KeYNamM über die Mauer und schlichen durch den Garten zum Haus. Die Tür zum Oberstock war nicht verschlossen und KeYNamM drückte sie vorsichtig auf.
Angestrengt lauschten sie ins Dunkel. Aus dem Unterstock war ein gequältes Schnarchen zu vernehmen. „Sicher eine der alten Dienerinnen! Sie schlafen!", zischte KeYNamM und betrat auf Zehenspitzen den dunklen Flur. An der ersten Tür blieb er stehen und lauschte. Kein Laut drang durch das Holz. Mit seinem Messer suchte er im Spalt zwischen Tür und Türrahmen nach einem Riegel, um ihn zurückzustoßen. Als er keinen ertasten konnte, drückte er vorsichtig gegen die Tür. Sie gab unter Knarren nach.
Aus einem kleinen Fester oben in der Wand zum Garten fiel etwas Licht in den Raum. KeYNamM spähte ins Halbdunkel. Mitten im Raum stand ein breites, niedriges Bett. Ein Haufen zerwühlter Decken und Kissen bedeckten es. Auf den Decken lag ein dicker Sack, der Körper eines Mannes. Der Körper bewegte sich im Rhythmus des Atmens. Der Amestan hielt die Luft an und lauschte. Plötzlich ertönte hinter ihm ein ersticktes „Aua!". Er wollte sich schon umdrehen, als Ikken zischte, „Es ist nichts! Tanan hat sich nur den Fuß angestoßen." KeYNamM zischte zurück, „Bleibt hinter mir! Das muss ich allein machen!"
Ein Räuspern von Bett her warnte ihn! Der Sack bewegte sich und warf sich im Bett herum, stöhnte tief und setzte sich plötzlich auf. Im Zwielicht starrten sie einander an, KeYNamM und Gouverneur Gwasila. Noch halb im Schlaf, räusperte sich letzterer, hustete zweimal und fragte mit heiserer Stimme ins Dunkel, „Wer ist da? Lalla, bist du alte Hexe es? Hörst du wieder Geister? Heute sind keine da!" Als er keine Antwort erhielt, streckte er sich wieder aus „Geh schlafen Alte! Alles ist in Ordnung. Heute brauch ich deine Hilfe nicht!" und begann sofort zu schnarchen.
KeYNamM wartete noch einen Augenblick, war dann mit einem Sprung am Bett, sprang darauf, packte den Kopf des Gouverneurs und setzte ihm seinen scharfen Dolch an die Kehle. Plötzlich war der Gouverneur hellwach. Er versuchte KeYNamM mit beiden Armen zurückzustoßen. Das gelang nicht! Darauf versuchte er sich aufzusetzen und den Unbekannten, der auf ihm saß, herunterzustoßen. KeYNamM musste sofort handeln. Er stieß mit dem Dolch zu und durchtrennte Gwasila die Kehle. Aber der Gouverneur war stark! Er strampelte, schlug mit den Armen um sich. Sein Herz schlug wild und Blut pulste stoßweise aus der angeschnittenen Halsschlagader. Im Todeskampf bäumte sich sein Körper immer wieder auf und die Arme und Beine zuckten krampfhaft. Als Ikken und Tanan sahen, dass KeYNamM Mühe hatte, den wild zuckenden Körper auf dem Bett festzuhalten, sprangen sie hinzu und halfen ihm den Strebenden niederzudrücken.
Der plötzliche Lärm hatte Lalla und ihre Schwester Kella aus dem Schlaf gerissen. Sie standen plötzlich in der Tür zum Schlafzimmer des Gouverneurs und begannen in höchsten Tönen zu kreischen, als sie die Gestalten im Halbdunkel sahen. KeYNamM ließ den Körper des Gouverneurs los, stürzte zur Tür und stieß die beiden alten Weiber zu Boden. „Schnell, lasst ihn liegen. Er ist erledigt!", rief er Ikken und Tanan über die Schulter zu. Die drei stürzten durch den Ausgang in den Garten und während Ikken und Tanan sofort zum Baum rannten, blieb KeYNamM kurz stehen. Er entzündete den Feuertopf und schleudert ihn in den dunklen Hausflur. Der Schwung war jedoch so groß, dass der Topf bis zur Treppe flog und die Stufen hinunterkullerte und beim Aufschlagen in der Diele zerbrach. Sein klebriger Inhalt aus Steinöl und Harz ergoss sich über die Steinfliesen der Diele, flammte auf und Rauch entwickelte sich. Als die drei über die Mauer kletterten und sich am Seil hinunterließen, sahen sie noch, wie die schreienden Dienerinnen des Gouverneurs vor dem Rauch aus dem Haus in den Garten flüchteten.
Ikken kannte einen Schleichweg vom Stadtberg hinunter zum Soukh an der Stadtmauer. Als sie durch das unübersichtliche Gewirr der Gassen schlichen und Tanan nach einer Weile immer noch nichts vom Durstigen Kamel entdecken konnte, wurde er unruhig. „Geh'n wir nicht nach Hause? Meine Mutter wird mich suchen!" Ikken flüsterte zurück, „Nein, Baba hat dir doch erklärt, warum wir nicht zu deiner Mutter können. Gleich sind wir bei meiner alten Schlafhöhle in der Stadtmauer und von dort kommen wir ungesehen aus der Stadt! Dann sucht uns die Polizei vergebens in der Stadt."
„Ikken hat recht", ergänzte KeYNamM, „Zu unserer Sicherheit und zum Schutz deiner Mutter müssen wir die Stadt sofort verlassen! Die Stadttore werden gleich doppelt und dreifach bewacht sein!"
An der Brandruine des Standes von Ikken's Muhme angekommen, rissen KeYNamM und Tanan Bretter aus der Absperrung zu Ikken's Wohnhöhle, während dieser Schmiere stand. Dann krochen die beiden durch den Durchgang und befanden sich im Nu vor der Stadtmauer. Dort warteten sie auf Ikken. Der verrammelte inzwischen von innen den Durchstieg in seine Wohnhöhle so gut er konnte und kroch zu den anderen vor die Stadtmauer.
Am Fuß der Stadtmauer fielen alle drei erschöpft zu Boden. Die Aufregung hatte ihnen stärker zugesetzt als die Anstrengung selbst. Besonders Tanan war geschafft. Zwar hatte er bei seinen Großeltern auf dem Dorf schon zugesehen, wenn Tiere geschlachtet wurden, aber er war noch nie dabeigewesen, wenn einem Menschen der Hals durchtrennt wurde. Er hatte zwar das Blut nicht gesehen, hatte es jedoch gerochen und gespürt, wie den Gouverneur plötzlich die Kraft verlassen hatte.
Anders Ikken. Auch ihm ging der Tod des Gouverneurs nahe, aber neben dem Schock war er von einem Triumphgefühl wie berauscht. Er hatte sich so oft ausgemalt, wie er seinen Vater rächen würde. Jetzt war es geschehen und das Triumphgefühl besiegte den Schauder, der in ihm den Tod eines Menschen auslöste. Außerdem kannte er das Gefühl schon, da er auf dem Feldzug sein Leben und das Yufayyur's nur hatte retten können, indem er einen Menschen tötete. Jetzt setzte er sich daher zu Tanan, der heulend auf dem Boden hockte und begann ihn zu trösten. „Du darfst nicht traurig sein, Tanan. Der Gouverneur hat Tadla ermordet, er hat viele andere Mädchen bestialisch ermordet und noch viel mehr Jungen, viel schwächere Jungen als dich und mich. Er hat meinen Vater ermordet, er hat meine alte Muhme auf dem Gewissen und hätte auch KeYNamM ermordet, wenn Aylal und ich ihm nicht geholfen hätten."
KeYNamM war inzwischen an der Mauer entlang bis zum Stadttor gegangen, das noch geschlossen war. Gewöhnlich war zu dieser Nachtzeit aus dem Wachhaus kein Laut zu hören, aber heute hörte er, wie die Wächter lautstark diskutierten. Jetzt war er sich sicher, dass der Tod des Gouverneurs schon bekannt und die Wache am Tor daher verstärkt worden war. Er war kurz versucht, an das Tor zu klopfen, damit Polizisten bezeugen konnten, dass er die Nacht außerhalb der Stadt verbracht hatte, verwarf den Gedanken dann aber und kehrte zu Ikken und Tanan zurück. „Wir müssen weg! Die Wachen am Tor sind schon verstärkt und wenn sie uns nicht in der Stadt finden, werden sie auch die Umgebung nach uns absuchen. Kommt!" Als Tanan den Kopf schüttelte, nahm ihn der Amestan in den Arm, „Wir müssen, Tanan, komm! Die suchen bestimmt zuerst im Durstigen Kamel und dann ist es besser, wenn sie dich dort nicht finden und deine Mutter behaupten kann, dass sie dich zuletzt gestern Abend gesehen hat!"
Im Morgengrauen stahlen sich die drei auf Nebenwegen so unauffällig wie möglich zu dem Grenzland im Osten von Tinghir, denn sie mussten unbedingt vermeiden, von den Händlern und Bauern gesehen zu werden, die zum Markt in die Stadt wollten.
Ankläger Anir und der Stadthauptmann trafen gleichzeitig an der Villa des Gouverneurs ein. Das Feuer im Unterstock war schon erloschen, doch die gesamte Gouverneursvilla war von dickem, beißendem Rauch erfüllt. Aus diesem Grunde waren bisher weder die Polizisten noch einer der Feuerwärter ins Innere des Hauses vorgedrungen. Lalla, die ältere der beiden Dienerinnen des Gouverneurs und seine ehemalige Amme, und ihre Schwester Kella zeterten. Als sie der Beiden ansichtig wurden, stürzten sie auf sie zu. Sie verfluchten die Polizisten, die Feuerwächter, die gesamte Stadt und flehten gleichzeitig alle um Hilfe an, „Der Gouverneur, der liebe Gwasila, unser Gwasilalein, helft ihm! Helft ihm! Er ist da drinnen! Stadthauptmann, Ankläger, ihr müsst ihm helfen! Dort, dort oben! Dort liegt unser Gwasilalein. Dort liegt er in seinem Blute und niemand holt ihn heraus! Helft! Alles Unfähige! Tölpel! Undankbare!" Polizisten drängten die zwei ab und der Hauptmann der Feuerwächter berichtete. „Droben soll der Gouverneur liegen! In seinem Blute! Im Bett! Die eine sprach von drei Riesen, die ins Haus eingedrungen wären und den Gouverneur umgebracht hätten, die andere erzählte von Geistern, von Geistern in wallenden Kleidern, von Jinns! Einem riesigen Jinn und zwei Zwergen, Zwergen mit Schwertern und Spießen wollte sie gesehen haben." Dann deutete er zum Garten, „Wir konnten nicht durch das Treppenhaus in den Oberstock und sind deshalb durch den Garten dort hin. Das Feuer ist erloschen, aber alles ist voller Rauch. Ich selbst bin bis ins Schlafzimmer des Gouverneurs vorgedrungen. Dort liegt ein Toter auf dem Bett."
„Ist es der Gouverneur?"
„Schwer zu sagen, aber ich glaube, die beiden haben recht. Es ist jedenfalls der Körper eines massigen Mannes."
Der Stadthauptmann und Anir, der Ankläger, fanden den Gouverneur im Schlafzimmer. Sie fanden seine ausgeblutete Leiche, den Hals durchschnitten, den Körper verkrampft und blutbesudelt wie das Bett. Ein Mord also, dessen Vertuschung durch den Brand nicht gelungen war.
Sobald es hell genug war, begannen der Ankläger und der Stadthauptmann nach Spuren zu suchen. Sie fanden weder das Mordwerkzeug, noch Spuren, die auf drei Täter hinwiesen. Drei waren es nach Aussage der Dienerinnen, wobei beiden klar war, dass es keine Jinns gewesen waren. „Jinns verhexten, Jinns töteten mit den Blicken, aber nicht mit Messer", bemerkte der Stadthauptmann. Der Gouverneur war also von drei Männern oder von einem großen Mann und zwei kleineren ermordet worden.
Anir hatte sofort einen Verdacht: der Amestan und seine Söhne! KeYNamM, Ikken und Tanan also. Hieß nicht der größere der Jungen, die den Amestan befreiten, ebenfalls Ikken? Wie er inzwischen erfahren hatte, hatte der Junge allen Grund den Gouverneur Gwasila zu hassen. Anir arbeitete zwar erst einige Monate in Tinghir, aber seine Haushälterin hatte ihm von den Machenschaften des Gouverneurs erzählt, die zum Tode von Ikken's und Aylal's Vater führten!
Anir beschloss seinen Verdacht vorerst für sich zu behalten. Der Amestan und Ikken waren ihm sympathisch und auch Tanan, der, wie er vermutete, Tirizi's verschwundener Sohn war. Diese Geschichte hatte ihm die Haushälterin erst gestern erzählt. Anir ärgerte sich über seine Subjektivität, aber dann entschied er, dass er seinen Verdacht nicht äußern durfte, bis er Beweise hatte, dass die drei die Tat begangen hatten.
Bei der Durchsuchung des Oberstocks wurde der Stadthauptmann stutzig. Etwas stimmte nicht! Der Schlafpalast des Gouverneurs war kürzer als der Flur. Als er die Länge der Räume auf der anderen Flurseite abschritt und mit der Länge des Schlafraumes verglich, kam er zu dem Schluss, dass neben dem Schlafraum noch ein zweiter, kleiner Raum liegen müsste. Ein Raum ohne Zugang? Das war unwahrscheinlich! Er klopfte den Teil der Wand des Flurs ab, hinter der er den geheimen Raum vermutete. Richtig! Die Wand klang hohl. Er ging ins Schlafzimmer, schob einen der Teppiche beiseite, die an der Seitenwand des Raumes hingen und begann die Wand dahinter abzuklopfen. Wieder klang es hohl.
Er fuhr Lalla an, die klagend am Fuß des Bettes bei der Leiche stand, „Ist da ein Raum hinter der Wand? Ein Geheimzimmer?" Die schaute kurz auf, tat als würde sie nicht verstehen und begann wieder mit ihren Klageliedern. Der Stadthauptmann hatte aber bemerkt, dass sie nicht ihn anblickte, sondern den mittleren Teppich, der die Wand verdeckte. Als er diesen beiseite schieben wollte, protestierte Kella lautstark. „Das war Gwasila's Lieblingsteppich! Keiner darf ihn anrühren! Keiner verschieben! Nur ich und meine Schwester dürfen ihn berühren." Jetzt wurde auch Anir auf die Vorgänge aufmerksam. „Der Stadthauptmann und ich untersuchen den Fall. Wir müssen alles untersuchen, wenn der Mord aufgeklärt werden soll!" Nun protestieren beide, Lalla und Kella. Sie stellten sich vor den Teppich, „Nein, nein! Hier ist nichts dahinter." Als zwei Stadtwächter sie wegzerren mussten, kratzten und bissen sie diese.
Hinter dem Teppich kam eine niedrige Tür zum Vorschein. Der Stadthauptmann riss sie auf und stand am oberen Ende einer Wendeltreppe, deren Ende sich im Dunkeln verlor. Die Wendeltreppe führte steil nach unten ins Dunkel. Anir und der Stadthauptmann benötigten Licht, wenn sie nach unten steigen wollten. Während der Stadthauptmann den Schlafraum des Gouverneurs nach Kerzen oder Laternen absuchte, entdeckte Anir gleich mehrere Laternen auf einem Bord im Vorraum der Treppe, die sie entzündeten. Begleitet von drei Polizisten, begannen sie die steile Treppe hinabzusteigen.
„35 Stufen!", verkündete der Stadthauptmann, als sie am Fußende der Treppe standen und in den nach links abbiegenden Gang vordrangen, „Viel mehr Stufen, als notwendig wären, um das Erdgeschoss zu erreichen. Die Treppe endet also tief im Untergrund unter der Villa!" Ein knapp mannshoher Gang führte weiter in die Tiefe und endete nach etwa 150 Schritten an einer schweren Holztür. Da der Gang mehrere Biegungen machte, hatten sowohl der Stadthauptmann als auch Anir die Orientierung verloren und wussten nicht wo er endete.
Die Polizisten hebelten die Tür auf. Plötzlich standen sie in einem großen, dunklen Raum, dessen Wände der schwache Lichtschein der Laternen gerade noch erreichte. In der Mitte des Raumes sahen sie ein schmales, hohes Gestell, das aussah wie eine Bahre. Daneben standen Leuchter mit Kerzen. Anir und der Stadthauptmann durchquerten den Raum vorsichtig, den Boden immer mit den Füßen abtastend, da sie eine Falle befürchteten. Vor dem Gestell blieben sie stehen und erkannten im schwachen Licht, dass es sich wirklich um eine Bahre auf Rändern handelte, auf der eine lederbezogene Matratze lag.
Jetzt entzündeten sie die Kerzen in den Leuchtern. Der flackernde Schein der Kerzenflammen reichte jetzt soweit, dass sie den Raum überblicken konnten. Beide überlegten noch, was es mit dieser Bahre auf sich hätte, als sie ein Schrei eines Polizisten, der noch an der Türe stand, aufschreckte. „Dort, dort stehen Jinns! Dort an der Wand." Anir schaute auf. Im Kerzenlicht konnte er deutlich drei Gestalten sehen, die im flackernden Licht wie lebendig wirkten. Flatternde Schattenbilder an der Wand verstärkten den grusligen Eindruck noch. „Drei Jinn? Drei Geister? Nein, es sind doch nur Puppen! Schaut, nur Puppen in bunten Kleidern!", rief Anir den Polizisten zu.
Aus der Nähe erkannten sie, dass es sich um Strohpuppen handelte. Zwei waren wie junge Mädchen gekleidet, mit weiten, bunten Blusen über bauschigen Röcken. Als Kopf diente ein Knäuel Stroh, das ein Kopftuch bedeckte, ein Aleshu, welches mit goldenen Blättchen verziert war. Um den Hals der Puppen hingen Ketten aus glänzenden Glasperlen. Trotz des Schmucks wirkten die Puppen tot, da ihnen die Augen fehlten.
„Die Kleidung erkenne ich!", rief einer der Polizisten und deutete auf eine der Puppen. „So ein Kleid hat Tadla immer getragen, wenn sie zum Markt ging!" „Bestimmt ist es ihr Kleid!", rief ein anderer, „Als meine Frau Tadla damit auf dem Markt sah, wollte sie sofort das gleiche haben! Es ist bestimmt ihr Kleid! Aber ...", er wurde plötzlich stumm und begann sich zu übergeben. Als er sich etwas gefasst hatte, fuhr er fort „Wenn es so ist, und ich bin sicher, dass es so ist, sind das die Kleider der ermordeten Tadla und die ...", er deutete auf die andere Puppe, „... die sind die des jungen Mädchens aus dem Grenzland, das Anfang des Jahres tot aufgefunden wurde! Tot und nackt!", er drehte sich zu Anir, „Das kann ich beschwören! Gestern noch hab ich die Berichte über die vergangenen Morde genau durchstudiert."
Anir wandte sich der dritten Puppe zu. Sie war kleiner, schmächtiger und trug keine farbenfrohen Mädchenkleider und keinen Schmuck, sondern ein weites erdbraunes Hemd und eine knielange Hose. „Ein Junge, der Größe nach, ein kleiner Junge! Vielleicht 10 Jahre alt oder nur 9." Anir Magen krampfte sich zusammen. Er schüttelte sich vor Grauen und fragte den Stadthauptmann mit belegter Stimme, „Wann ist der letzte ermordete Jungen aufgefunden worden? Dieses Jahr, letztes Jahr?"
„Der letzte? Am Ende des Winters. Ich erinnere mich genau! Er hatte seine Eltern in die Stadt zum Markt begleitet und verschwand im Laufe des Nachmittags."
Der ältere der Polizisten meldete sich, „Ich habe den Jungen gefunden, seine Leiche, wollte ich sagen! Er war grässlich zugerichtet!", und er schloss die Augen, als wolle er das grausige Bild nicht noch einmal sehen. „Seine Eltern haben nie gesehen, wie bestialisch er zugerichtet war. Wir mussten ihnen den Anblick ersparen." Er seufzte, „Das Monster hatte den armen Jungen nackt ausgezogen, hatte ihn erwürgt, den Penis abgeschnitten und ihm einen spitzen Pfahl in den After gerammt!"
Anir schüttelte sich vor Grauen. Doch dann fragte er, „Und die Hoden? Waren die abgeschnitten?" Anir musste das wissen, da er sich erinnerte, dass die Lieblingsspeise des Gouverneurs Hoden von kleinen Jungen waren.
„Die? Die wurden nicht gefunden, während der abgeschnittene Penis im Mund des toten Jungen steckte."
Anir sah, dass es im Kopf des Stadthauptmanns arbeitete. Darum fragte er, „Hauptmann, glaubst du auch was ich glaube?" Der nickte nur! Zurück an der Bahre untersuchen sie diese genauer. Der Lederbezug der Matratze auf ihr war saubergewischt, aber an den Seiten fanden sie noch feuchte, klebrige Stellen. Als der Stadthauptmann mit dem Fingernagel etwas von der dunklen Masse abkratzte und an ihr roch, stöhnte er, „Blut, geronnenes Blut!" Als er mit der Hand entlang auf der Unterseite der Matratze entlang strich, fand er weitere Spuren von Blut. Er musste sich zwingen, sich nicht zu übergeben.
Im Untergestell der Bahre war eine Schublade eingebaut. Sie enthielt kleine und große Messer, lange Nadeln, Stricke und eine Auswahl weiterer Marterinstrumente. An den Ecken der Bahre hingen breite Bänder herunter, mit denen die Opfer auf ihr festgebunden werden konnten.
Am Ende dieser ersten, hektischen Untersuchung standen die fünf Männer unter Schock. Der jüngste der Polizisten hockte sich auf den Boden und weinte hemmungslos. „Ich habe Tadla so gemocht! Sie war so schön. Ich wollte sie jedes Mal, wenn ich sie traf, fragen, ob sie mich heiraten würde. Ich habe mich aber nicht getraut! Ich, ich bin schuld, das sie ermordet wurde!" Anir hockte sich zu ihm und versuchte ihn zu trösten, aber vergebens. Die anderen starrten wortlos zu Boden.
Später erinnerten sich die Polizisten und ihr Hauptmann, dass die Leichen immer am Fuß der Stadtmauer gefunden worden waren, immer an fast der gleichen Stelle. Sie vermuteten, das der Mörder, und alles deutete auf den Gouverneur als Täter hin, die Toten nicht die Treppe hinauf zurück in die Villa geschafft hatte, um sie dann über die Straße zum Platz vor dem Gericht und zur Mauer zu tragen. Das wäre unvorsichtig gewesen. Irgendwo musste es also einen weiteren Ausgang aus dem unterirdischen Raum geben. Sorgfältig suchten sie die Wände der Schreckenskammer ab. Als sie schon aufgeben wollten, trat der jüngste Polizist voll Wut und Verzweiflung dort gegen die Wand, vor der die Puppe mit den Jungenkleidern stand. Eine getarnte Tür öffnete sich hinten und gab den Zugang zu einem engen Gang frei, der schräg nach oben führte. Er endete im Freien an einer Stelle der Stadtmauer zwischen dem Gefängnis und dem Amtssitz des Gouverneurs im Stadthaus. „Durch diesen Gang wurden also die ermordeten Kinder aus der Folterkammer herausgebracht und anschließend über die Mauer geworfen", stellte der Stadthauptmann mit heiserer Stimme fest.
Zurück in der Folterkammer rochen die fünf Männer erst, wie widerwärtig es in ihr roch. Es roch nicht nur nach abgestandener Luft, sondern wie in einem Schlachthaus nach Blut und Kot. Der Stadthauptmann befahl nun dem jüngsten Polizisten nach oben zu gehen und die beiden Dienerinnen nach unten bringen zu lassen. Außerdem sollten mehr Laternen und Kerzen heruntergebracht werden. „Du bleibst oben Kamerad und erholst dich. Du hast heute schon genug gesehen. Andere sollen die Beiden herunterbringen, wenn nötig mit Gewalt. Auch der Schreiber soll kommen, ich will die beiden Frauen hier unten vernehmen!"
Nach einer kurzen Zeit hörten sie Lalla und Kella auf der Treppe schimpfen und streiten. Wenn Lalla den Stadthauptmann als undankbaren Idioten und Feind des Imperators beschimpfte, versuchte sie Kella, ihre Schwester, zu beruhigen. Wenn Kella den Staatsanwalt mit einer Schimpfkanonade bedachte, beruhigte sie Lalla. Die jüngere jedoch war nicht zu beruhigen, „Der unerfahrene Schnösel, der irre Rechtsverdreher, einer den der Teufel schleunigst holen sollte", schimpfte sie.
Sobald die beiden jedoch die Folterkammer betraten, waren sie wieder ein Herz und eine Seele und Lalla schrie, „Was habt ihr in Gwasila's Allerheiligstem zu suchen? Wer hat euch die Erlaubnis gegeben hier einzudringen? Er, der treueste Diener des Imperators ist ermordet worden und ihr spioniert ihm nach, anstatt seine Mörder zu suchen?" Kella schloss sich dem Geschrei ihrer Schwester an, „Ja, Gwasilalein hat hier im Namen des Imperators Recht gesprochen! Hier hat er das Land von bösen Geistern befreit! Hört ihr nicht die Jinns heulen?" Dann schrie Lalla mit sich vor Zorn überschlagender Stimme, „Kel Essuf wird kommen und euch das Herz aus der Brust reißen! Seid verflucht, ihr Verräter! Dreimal verflucht!"
„Nieder auf die Knie!", schrie sie der Stadthauptmann an. Als sie sich weigerten, rief er den Polizisten zu, „Schlagt ihnen die Beine weg!" Und die taten dies ohne Erbarmen. Als die beiden Schwestern endlich knieten, fuhr er Lalla an, „Was hat der Gouverneur hier unten getan? Wann war er zuletzt hier in diesen Raum? Wo hat er Tadla verstümmelt und ermordet? Hier?", und er deutete auf die Bahre.
„Diese Ausgeburt der Hölle, dieses Tanzmädchen, die den Männern den Kopf verdreht hat, nicht zu Gott gebetet hat, nicht einmal unseren Imperator die Ehre erwies, ja, dieses Tanzmädchen haben wir für ihn gefangen!", schrie Lalla zurück.
„Ja diese Ausgeburt des Teufels, Gwasilalein hat sie ausgewählt und wir haben sie zu ihm gebracht", kreischte Kella. „Unser Gwasila, der treue Knecht unseres Imperators, musste den bösen Geist aus ihr austreiben!"
„Ja, sie hat alles gestanden!", brüstete sich Lalla, „Am Ende hat sie alles gestanden! Wie sie die Männer verzaubert hat, wie sie die Männer in Weiber verwandelt hat, unbrauchbar für den Kampf gegen die Wüstensöhne und den König des Unlands!"
„Ja! Sie war es, diese Verbündete des Teufels!", zischte Kella vor Zorn bebend.
Jetzt konnte Anir nicht mehr still halten, „Und die kleinen Jungen? Haben die kleinen Jungen auch die Männer verführt, haben sie auch im Namen des Teufels den Wüstensöhnen geholfen."
„Nicht den Wüstensöhnen! Aber dem Amestan, dem verfluchten Amestan haben sie geholfen, die Menschen am Draa zu beschützen. Ihm haben sie geholfen, den Imperator seines Tributs zu berauben!", schrien beide mit einer Stimme.
„Es ist genug!", sagte der Stadthauptmann mit tonloser Stimme, „Schreiber hast du die Aussagen genau notiert, Wort für Wort?" Jetzt wandte sich der Stadthauptmann an seine Polizisten, die fassungslos und entsetzt dastanden, „Habt ihr das gehört? Habt ihr die beiden Dienerinnen von Gouverneur Gwasila gehört? Habt ihr verstanden, was sie eingestanden haben?" Dann blickte er zur dunklen Decke der Folterkammer, „Jetzt steht ohne Zweifel fest, dass der Gouverneur ein Serienmörder war und die beiden Schwestern seine Helfer." Er wartete bis die Polizisten aus ihrer Starre erwachten und blickte den Staatsanwalt in das verstörte Gesicht: „Jetzt ist es an dir Ankläger Anir, den beiden den Prozess zu machen. Ich werde heute noch den neuen Imperator über die Untaten seines Gouverneurs unterrichten und dann seine Befehle abwarten."