„Ikken, Ikken, wann kommst du wieder, Ikken?" Ikken hörte Hiyya's Rufe aus der Entfernung nur noch leise, leiser als die hohen Stimmen der Zwillinge Anirt und Amimt. Sie riefen „Aylal, Aylal, wann kommst du wieder? Komm bald, der Hund bekommt nächste Woche Junge!" Es war noch sehr früh am Morgen und die Sonne hatte den Tau noch nicht von den Gräsern getrunken, als KeYNamM, Ikken und Aylal mit den Pferden die Furt des Draa durchquerten. Mitten in Fluss ließen sie die Pferde sich noch einmal satt trinken, dann ritten sie den Talhang hinauf zum Pfad, der auf der Grenzlinie zwischen Galeriewald und Wüstensteppe nach Süden, nach Tamegroute, führte. Sie ritten bis zum Spätnachmittag, dann nahmen sie eine Abzweigung, der sie zurück zum Draa brachte. Gegen Abend erreichten sie einen kleinen Marktflecken am Flussufer.
In der Hitze des Spätnachmittags lag die staubige Dorfstraße des Fleckens wie ausgestorben da. Ikken stöhnte, „Gibt es denn hier kein Gasthaus in dem wir einkehrten können? Mein Magen knurrt schon seit dem Morgen." Er blickte vorwurfsvoll zu KeYNamM zurück, der weit hinter ihnen ritt. „Du hast mich zu spät aus dem Bett geworfen und ich musste ohne zu essen aufbrechen!" „Klar musste dich KeYNamM-baba herausschmeißen", spottete Aylal, „Du hast verschlafen! Geschieht dir recht! Glaubst du wir haben nicht bemerkt, dass du dich mit Hiyya weggeschlichen hast und erst im Morgengrauen wieder im Bett warst?" „Ich musste pinkeln!", schnappte Ikken mit hochrotem Kopf zurück. „Die halbe Nacht?", fragte KeYNamM. „Und Hiyya musste dir dabei helfen?", foppte ihn Aylal, „Musste sie dein Schwänzchen halten?" Ikken wurde noch röter im Gesicht und trieb sein Pferd schnell weiter die Straße herunter. In der Eile hätte er fast die kleine Gaststätte übersehen, deren dunkler Eingang zur Straße einem Spalt offen stand.
Die Gaststube war niedrig, kühl, dunkel und viel kleiner, als die der Herberge „Zum Durstigen Kamel". Sie war leer, weder ein Gast noch der Wirt waren zu sehen. Erst nach einer Weile schlurfte ein unförmig dicker Mann mit mürrischem Gesicht aus dem Hinterzimmer in die Gaststube. Mühsam bewegte er sich auf die Drei zu, blinzelte verschlafen und murmelte mürrisch etwas von Störung. Erst als er direkt vor KeYNamM stand hob er die Augen. Plötzlich erstarrte er! Er wischte sich einmal, zweimal über die Augen und seine Müdigkeit war wie verflogen. „WEIB! WEIB!", brüllte er, „Weib, Tamayyurt, mein Vollmond! Weißt du wer vor mir steht? Komm schnell!" Dann fiel er auf die Knie, „Amestan! Mein Amestan! Endlich bist du wieder da!" Er nahm KeYNamM's Hände und begann sie zu küssen. „Amestan, wie haben wir dich vermisst!", stammelte er zwischen den Küssen. „Wir haben dich so vermisst, König des Unlands! Gott sei Dank, du lebst. Die aus Tinghir sagten, du seiest tot!"
Sein Weib kam herein, rund wie der Vollmond, strahlend wie die Sonne. Sie fiel vor dem Amestan auf die Knie und rief ein ums andere Mal „Oh, das ich das noch erlebe! Oh, dass ich das noch erlebe!" Dann aber rappelte sie sich auf, war schneller wie der Wind aus der Tür und rief die Straße hinauf und hinunter, „Der Amestan ist da! Der Amestan ist da! Er ist zurück! Wirklich! Er! Er!"
Der kleine Marktflecken erwachte plötzlich zum Leben. Die Türen und Fenster der Häuser flogen auf. Aus allen Häusern strömten Menschen herbei, Große, Kleine, Alte, Junge! Der Menschenstrom rollte zum Gasthof, füllte den Gastraum und alle drängten sich um KeYNamM. Die einen küssten ihm die Hände und andere lagen sich in den Armen und beglückwünschten sich, wieder andere sangen, „Der Amestan ist wieder da, unser König vom Unland."
In der Aufregung achtete natürlich niemand auf Aylal und Ikken. Sie hockten in einer Ecke auf einer harten Bank, müde der eine, müde und hungrig der andere. Sie hofften, dass die Aufregung bald ein Ende nehmen und jemand sich um sie kümmern würde. Es war ein kleines Mädchen, das endlich ein altes, buckliges Weib auf die beiden aufmerksam machte, „Schau Tantchen, der Amestan ist nicht allein gekommen. Er hat …!" Sie kam nicht weiter. Die Alte, krumm und scheeläugig wie sie war, warf nur einen Blick auf die beiden, auf Ikken mit seinem roten Tukumbut auf den Kopf und Aylal, der sich ein blaues Tuch als Turban als Schutz gegen die Sonne um den Kopf geschlungen hatte. Sie starrte die beiden an, als wollte sie sich versichern, dass sie wirklich sah was sie sah, dass sie keiner Halluzination aufgesessen war. Dann drehte sie sich um, stieß mit ihrem dicken Stock mehrmals auf den harten Boden und als alle zu ihr hinsahen, verkündete sie mit schriller Stimme. „Das ist ein besonderer Tag! Der Amestan ist zurück, der Amestan und der Junge, der den roten Hut von König Gaya trägt und der Junge, der den blauen Turban der Könige des Unlands trägt! Seht ihr das nicht, wisst ihr nicht, dass ihr die Drei feiern müsst! Drei Könige! Drei, die uns Menschen vom Unland am Draa, den Menschen vom Grenzland und den Bewohnern der Wüste Frieden bringen werden! Das sage ich euch! Ich, die alte Ultasila, die Alte, die aus der staubigen Ebene kam, um die zu finden, die meine Schwester aus den Bergen, Ultafa, angekündigt hat."
Die Anwesenden schauten erstaunt auf die Alte. Den einen galt sie als Närrin, den anderen als Hexe und für die andern war sie einfach ein altes humpelndes, schielendes Weib. In diesem Augenblick wusste keiner in der Gaststube ihre Worte zu deuten. Sie hörten ihre Worte, aber verstanden sie nicht. Sie wussten nur eins, der Amestan ist wieder da! Also hörten die Menschen nicht auf sie. Die Männer nahmen KeYNamM auf die Schultern, trugen ihn aus der Gaststube, „Auf, auf! Los! Los!", brüllten sie durcheinander, „Auf zur Burg! Im Innenhof des Tighremt's wollen wir ein Fest für unseren Amestan ausrichten. Auf! Auf! Los!" KeYNamM zuckte hilflos mit den Schultern, als ihn die Dorfbewohner aus der Gaststätte hochhoben und trotz seine Proteste auf den Schultern im Triumphzug zum Tighremt trugen. Er wusste als einziger die Worte der Alten zu deuten und hoffte nur, dass sich einige der Dorfbewohner um Ikken und Aylal kümmern würden.
Bald saßen Aylal und Ikken wieder allein in der leeren Gaststube. Gerade als Ikken anfangen wollte zu schimpfen, strömten Kinder herein, an der Spitze ein Junge mit rotem Haar. Zuerst umlagerten sie die beiden neugierig, aber dann nahm sich der Rothaarige ein Herz, „Hast du Hunger, du mit dem blauen Turban?" Als Aylal nickte, zog er ihn vom Sitz hoch, „Komm mit! Komm mit!", und zog mit ihm und einer Schar Gleichaltriger ab.
Ikken fühlte sich ausgeschlossen. Bevor er sich aber entschließen konnte Aylal nachzugehen oder doch besser das Tighremt zu suchen, trat ein etwa gleichaltrige Junge vor ihn hin, musterte ihn von Kopf bis Fuß, „Du mit dem roten Tukumbut, bist du wirklich König Gaya?", dann kratzte er sich am Kopf, „Der ist doch schon lange tot, oder!"
„Ja! Du hast Recht! Aber das ist sein Hut und weil er mir von einer weisen Frau geschenkt wurde, bin ich jetzt der neuen König Gaya!" Dann nahm er sich ein Herz, „Aber auch Könige sind hungrig und durstig! Hast du was für mich zu essen?"
„Komm! Komm mit König Gaya! Ich bin Saden und der, der deinen Bruder mitgenommen hat, das ist Idder, mein kleiner Bruder. Unser Haus ist das am Ende des Dorfes, dort wo niemand mehr wohnt, nur die alte Ultasila und wir." Als Ikken ihn fragend anblickte, meinte Saden „Ja wir wohnen im Hexenhaus, denn die Menschen halten Ultasila für eine Hexe, aber kochen kann sie gut. Heute, heute hast du Glück, König Gaya. Heute war ein dicker Fisch in der Reuse und dazu gibt es Fladenbrot."
Das Hexenhaus war wirklich klein. Es beherbergte nur die Küche, in der auch Saden und Idder schliefen, und den Raum von Ultasila. Als sie ankamen, hatten sich die anderen Kinder schon zerstreut und Aylal saß am Feuer und half Idder Fladenbrot auf einem heißen Stein auszubacken. „Wir warten schon auf euch, ihr müsst den Fisch braten!", begrüßte Idder seinen Bruder und seinen Gast.
Fisch und Brot waren erst fertig, als sich die Dämmerung schon herabgesenkt hatte. Sie waren am Essen, als plötzlich im Türrahmen Gesichter auftauchten. Der flackernde Feuerschein verzerrte sie, aber Ikken erkannte, dass es sich um junge Burschen handeln müsse.
Er behielt Recht, denn sofort fragte einer von ihnen neugierig, „Du bist also König Gaya, der König der Wüstensöhne? Bist du wirklich König Gaya, wie die alte Hexe behauptet hat?", und ein Zweiter fragte mit Spott in der Stimme, „Bist du das auch noch, wenn du den roten Hut nicht trägst?" Ein Dritter wollte die anderen zwei übertrumpfen, „Beweise es uns! Beweise, dass du König Gaya bist! König Gaya konnte einem Löwen in stockfinsterer Nacht mit dem ersten Pfeilschuss ein Auge ausschließen. Du hast doch Boden und Pfeil dabei? Los beweise es!"
Ikken war überrumpelt und suchte nach einem Ausweg. „Wo ist euer Löwe?" Als keine Antwort kam, „Dann beschafft mir einen Löwen! Ich habe zwar noch nicht versucht, einem Löwen ein Auge auszuschließen, aber ich kann es. Bringt euren Löwen her!" Jetzt mussten die Burschen reagieren. Sie tuschelten, dann sagte der Mutigste, „Also Löwen haben wir hier am Fluss nicht. Aber die Augen der Eulen leuchten auch in der Nacht und davon gibt es hier genug!" „Eulen? Eulen sind heilige Wesen. Wer einer Eule etwas zu Leide tut, verärgert Kel Essuf, den Wüstengeist. Ich schieße nicht auf Eulen!"
„Angsthase, Angsthase!", begannen jetzt die Burschen zu spotten. Ikken runzelte die Stirn, aber dann hatte er eine Idee. „Hier!", er zeigte auf ein Talglicht, „Hier! Ich zünde das Talglicht an und der Tapferste von euch hält es draußen vor dem Haus im Dunklen als Zielscheibe in die Luft. Ich ziele auf das flackernde Licht. Wenn es ausgeht, ist das so, als hätte ich dem Löwen das Auge ausgeschossen. Wenn ich die Hand dessen treffe, der das Talglicht hält, hat er Pech und ihr wisst, dass ich nicht Gaya bin."
Die Burschen begannen wieder zu tuscheln. Dann trat einer vor. „Es ist viel zu dunkel. Bei der Dunkelheit kannst du nicht zielen, triffst also nicht genau und keiner von uns will einen Pfeil in der Hand!" Da stand Saden auf, zündete das Talglicht an, ging 20 Schritte in die Dunkelheit und rief, „Komm Ikken, komm König Gaya, schieß! Ich weiß das du triffst!"
Ikken nahm seinen besten Pfeil aus dem Köcher, legte ihn auf den Bogen, spannte die Sehne, legt an und bevor einer der Burschen die Situation erfasst hatte, sirrte der Pfeil durch die Nacht. Die Flamme des Talglichtes flackerte kurz auf und erlosch dann.
Die Burschen zogen beschämt ab. Ikken aber umarmte Saden, „Du hast Mut mein Freund. Freunde wie dich werde ich benötigen, wenn ich in die Wüste gehe und mein Erbe antrete." „Ich komme mit. Ich komme überall hin mit, wohin du auch gehst, König Gaya!" „Nicht jetzt, erst müssen wir nach Tamegroute, dort wartet der Marabout, der allein unser Schicksal kennt." Aylal beugte sich zu Idder, der neben ihm stand, „Willst du mein Freund sein, Idder? Ich werde nicht in die Wüste gehen. Du hast gehört, was Ultasila sagt. Ich muss den Fluss bewachen, den Fluss der von den kalten Bergen kommt, im Sand verschwindet, aus dem Sand auftaucht, wieder verschwindet, wieder auftaucht und endlich seinen Weg ins Unendliche findet."
Am frühen Morgen wurde Ikken durch Pferdegewieher geweckt. Im Halbschlaf drehte er den Kopf zur Tür der kleinen Hütte, wo durch den löchrigen Vorhang das erste Licht des Morgens sickerte. Der dunkle Haarschopf, der ihm die Sicht aus dem großen Loch im Vorhang verwehrte, gehörte Saden. Erst jetzt erinnerte er sich an den vergangenen Abend. Er war stolz, dass er mit einem Pfeilschuss die Flamme des Talglichtes ausgelöscht hatte, welches Saden mit ausgestrecktem Arm als Ziel über dem Kopf gehalten hatte. Ikken führte diesen Erfolg nicht auf seine Schießkunst zurück, eher auf Glück, denn zum genauen Zielen war es vor der Hütte viel zu dunkel gewesen. Vielleicht war es auch nur der Nachtwind gewesen, dachte er, oder wer weiß das schon, Kel Essuf oder einer seiner Jinns. Aber was hatten denn die Wüstengeister hier am Ufer vom Draa zu suchen?
Als er sich streckte, um aufzustehen, stieß er mit den Füßen gegen einen weiteren warmen Körper. War es der von Aylal oder Idder? Die beiden lagen eng umschlungen am Fußende der niedrigen Liege, die eigentlich gerade groß genug für zwei war. Notgedrungen hatte er es sich am Abend mit Saden am Kopfende bequem gemacht, während Idder und Aylal am Fußende schlafen mussten. Na ja, dachte er, bequem war anders. Aber er war ausgeschlafen.
Ikken kroch über Saden aus dem Bett, aber noch bevor er durch den dämmerigen Raum zur Tür gestolpert war, hatte der ihn eingeholt und den Vorhang beiseitegeschoben. „Schau die Pferde, ..." rief er, „... die Pferde! Sie sind geschmückt, geschmückt wie für einen König!"
Saden hatte Recht. Ikken erkannte seinen kleinen Araberhengst fast nicht wieder. Die graue Satteldecke war durch einen bunten Teppich mit Troddeln und Glöckchen ersetzt und statt der Lederriemen des Zaumzeugs diente ein breites, perlenbesetztes Band als Zügel. Nur der Sattel war der alte, ein abgeschabtes Stück, den eine Generation von Wüstenkriegern eingeritten hatte. Selbst das kleine Pferd schien den Unterschied zu spüren. Heute benahm sich sein Hengst nicht so bockig und übellaunig wie sonst am Morgen, sondern schritt stolz wie ein Streitross auf ihn zu. Auch Aylal's großen Wallach hatte der Putz verwandelt. Er hielt sein Haupt erhoben und sog die frische Morgenluft stolz durch die weit geöffneten Nüstern.
Ikken blieb keine Zeit sich von der Überraschung zu erholen, denn KeYNamM, der sich hinter einigen Büschen am Wegrand verborgen hatte, kam angeritten, sprang vom Pferd und begrüßte die vier, die sich inzwischen gähnend zwischen den Türpfosten drängten. „Los, los!", begrüßte er Ikken und Aylal „Wir haben noch einen weiten Weg bis Tamegroute! Wir müssen in spätestens sechs Tagen dort sein. Der alte Marabout, mein Lehrer, kann nicht mehr lange warten, sagt Ultasila! Er ist am Auslöschen, wie eine fast heruntergebrannte Kerze. Er erwartet die Rückkehr des Amestan's und er erwartet die künftigen Könige!"
„Wir kommen mit euch!", riefen Saden und Idder, als Ikken und Aylal auf die Pferde stiegen. „Wir kommen nach! Wir sind Freunde! Vergesst das nicht!", riefen sie, als sich die Kavalkade ohne sie entfernte.
Gegen Abend erreichte ein müder KeYNamM mit seinen Söhnen den nächsten Flecken. Schon bei den ersten Häusern wurden sie von Dorfbewohnern begrüßt. Am Dorfeingang war ein Triumphbogen errichtet worden, ein hoher Bogen aus Stangen und Schilfbündeln. Er war mit Blumen und Früchten geschmückt, sowie mit breiten Bändern, die im Wind flatterten. Die Dorfältesten begrüßten die Drei mit tiefen Verbeugungen und die festlich gekleideten Dorfbewohner führten sie zu einer Kasbah. In ihren kühlen Räumen war für Essen und Trinken gesorgt und in einem Nebenraum war ein breites Lager aus Schilfbündeln für die Nacht hergerichtet. Als KeYNamM sich bedankte und seine Verwunderung über den Empfang ausdrückte, erzählte ihnen der Dorfälteste, dass Ultasila schon am Mittag vorbeigekommen sei. Sie sei wie eine Taube plötzlich aus dem Blau des Himmels aufgetaucht, um die Ankunft des Amestan und seiner königlichen Söhne anzukündigen, berichtete er.
Die folgenden Tage verliefen wie der erste. Wenn sie in ein Dorf kamen, wurden sie am Eingang empfangen, den Dankesreden folgte ein Festessen, bei dem alles aufgefahren wurde, was die Dörfer bereitstellen konnten. Zur Übernachtung wurde ihnen der beste Raum des Dorfes zur Verfügung gestellt und nicht nur sie, sondern auch die Pferde wurden aufs Beste versorgt.
Natürlich rief das plötzliche Auftauchen der zwei Söhne des Amestan's die besondere Neugierde der Frauen und jungen Mädchen hervor, da niemals zuvor von einer Heirat des Amestan die Rede gewesen war, niemand etwas von einer Frau wusste, die er geehelicht hätte und erst recht nichts von Söhnen, den Königskindern. Alle fragten sich, waren KeYNamM die beiden Söhne von der Großen Mutter, von Mutter Meryem, geschenkt worden, hatte er sie an der Quelle der Meryem gefunden oder am Draa oder in der Wüste? Fragen die niemand beantworten konnte. Und wie passten diese Vermutungen zu der Erzählung vom ersten Zusammentreffen der Drei in Tinghir? Waren die beiden Jungen des Amestan's Befreier? Auch Ultasila, die Alte aus der staubverhüllten Ebene, und Ultafa, die Alte von den steinigen Bergen, und all ihre weisen Schwestern wussten es nicht!
Noch etwas anderes wunderte die Menschen der Dörfer, durch die KeYNamM mit Ikken und Aylal weiter nach Süden ritten. Angekündigt wurde ihr Kommen durch alte Frauen, weisen Frauen, die einander so ähnlich sahen, dass niemand wusste, war es die aus der Ebene, die aus den Bergen, die aus der Wüste oder die vom Fluss. Noch irritierender war, dass am Tage nach dem die Drei durchgekommen waren, eine Prozession Kinder zu Fuß, auf kleinen Pferden und grauen Eseln durch die Dörfer kamen. An der Spitze ritt auf einem Rappen ein unbekannter Mann. Er führte die Prozession der Kinder an, von Knaben wie Idder, jungen Burschen wie Saden oder Tanan, verspielten Mädchen wie Anirt und Amimt oder aufblühende Rosen wie Hiyya. Die Sechs und noch viele, viele mehr zogen vorbei. Alle fragten nach den Dreien und zogen eilig weiter.
Am fünften Morgen verließ KeYNamM mit Ikken und Aylal das Tal des Draa. „Wenn wir im Tal weiterreiten, kommen wir gegen Mittag an eine der Stellen, in der der Draa in den Sand eintaucht und erst weit, weit im Westen wieder auftaucht. Wir verlassen daher den Fluss!" Er sprang vom Pferd. „Tränkt die Pferde noch einmal, meine Söhne, füllt die Wasserschläuche! Wir schlagen den Weg über die Berge nach Tamegroute ein. Dort müssen wir den Marabout finden, der die Gräber der Könige vom Unland bewacht. Nur er weiß den Weg, den ihr und ich in Zukunft gehen werden. Er ist uralt und wir müssen ihn finden, bevor der Vollmond morgen früh hinter den Dünen im Süden versinkt, denn dann verlöscht auch der uralte Marabout."
Von da an schlugen sie den Weg nach Südosten ein, übers Gebirge, durch Sandfelder, Steinwüsten, Trockentäler, vertrocknete Wälder, schroffe Berge. Gegen Abend des Tages erblickten sie von einem Pass aus in der Ferne eine Ansammlung flacher Bauten. Der aufziehenden Dunkelheit wegen konnten sie die Häuser nicht zählen. Aber es waren sehr viele. Sie lagen verstreut in der Sandebene, wie Holzklötzchen, die Kinder am Abend auf einem Spielplatz zurückgelassen hatten.
„Wo bleibt der Mond?" Ikken suchte den Horizont nach dem Mond ab. "Wir haben Vollmond! Wo bleibt er? Er müsste doch dort drüben aufgehen, wie gestern. Nur die Sterne funkeln vom dunklen Himmel!" „Du hast Recht! Dort müsste er aufgehen. Aber seht ihr die schwarzen Wolken, die den Horizont verdecken?" „Was ist das Vater, KeYNamM-baba?", fragte Aylal, „Das sind keine Wolken!" „Es sind Sandwolken Aylal! Dort hinterm Horizont treibt Kel Essuf sein Unwesen! Die Sandwolken, die aufsteigen ,zeigen, dass er die Bösen bestraft!" „Wie sollen wir ohne Mond den Marabout finden? Wie die Qubba, in der die Könige vom Draa ruhen? Sag es KeYNamM-baba!" Ikken starrte in die vor ihnen liegende Ebene mit der Ansammlung von flachen Häusern. „Wo zwischen all diesen Gebäuden sollen wir die Grabkapelle der Könige vom Draa finden?", bohrte Aylal nach. „Wo? Sag es, KeYNamM-baba. Du warst schon hier! Siehst du das Totenhaus, das Mausoleum der Könige vom Draa?"
„Aylal, sei nicht ungeduldig. Auch ich kann von hier oben nicht erkennen, welches der vielen Häusern die Körper der Könige des Unlands beherbergt. Es ist schon zu lange her, mein Sohn, dass ich in Tamegroute war! Ich war damals nicht viel älter als ihr heute!"
„Vater, KeYNamM-baba, du wirst uns richtig führen. Ich weiß es", rief Ikken und trieb sein Pferd an. „Du wirst uns zum Marabout bringen und er wird uns unsere Wege voraussagen, wie die weisen Frauen prophezeit haben."