Ikken vermisste eine Stadtmauer, die Tamegroute wie jede andere Stadt vom Umland abgegrenzt hätte. Er vermisste ein Stadttor, das Fremden den Einlass nach Tamegroute verwehrt hätte. Er vermisste Nachtwächter, die mit ihren Laternen durch die engen Straßen patrouillierten. Sogar die Hunde fehlten, die nachts um die Häuser strichen, auch die Katzen, die über die Dächer huschten. Tamegroute war offen für den Wind vom Gebirge, den Wind aus der Wüste, für den Sand aus der Wüste, für die Jinns, die in den Höhlen hausten, für Kel Essuf, den Geist, der aus dem Nichts kam und doch alles beherrschte.
„Ist das eine Stadt Vater, KeYNamM-baba?", fragte Ikken und wollte wissen, „Schau der Sandpfad, auf dem wir vom Gebirge kommen, endet plötzlich zwischen Häusern, Häuser wie Quader, Quader mit kleinen Kuppeln, Quader ohne Fenster, Quader ohne Türen, ohne Eingänge! Nirgends ist ein Lichtschein zu sehen. Wohnen da Menschen Vater? Wohnen da Tote? Vater, was ist Tamegroute?"
„KeYNamM-baba?", fragte Aylal, „Wohnen da Menschen in den Häusern? Wohnen da Tiere in den Ställen, Pferde, Esel, Rinder? Noch nicht einmal eine Katze streift durch das Dunkel! Wo sind die Nachtfalter, die Fledermäuse?" Er zögerte. „KeYNamM-baba ich habe Angst! Nicht einmal ein Kauz streicht um die Häuser! Wo sind die Nachtschwalben?"
Es war leer, es war still zwischen den quaderförmigen Bauten. Nicht einmal der Sand wurde vom Nachtwind aufgewirbelt. KeYNamM, Ikken und Aylal ritten die gewundene, sandverwehte Straße weiter, die vom Rand der Siedlung zum quadratischen Platz in ihrer Mitte führte. Sie bogen in eine der kleinen Abzweigungen ein, die alle im Dunkeln zu enden schienen, im Nirgendwo. Stille, Stille, Stille! Alles war still. Da war nur der dumpfe Aufschlag der Pferdehufe im Sand. Tock, Tock, Tock war das einzige, was die Stille durchbrach.
„Weißt du wo das Grabmal der Könige vom Unland ist, KeYNamM-baba? Ein Häuserquader sieht aus wie der andere!" „Es ist schon so lange her, dass ich hier war, Aylal. Ich weiß nicht ob dieser oder ein anderer Weg zum Grabmal führt, der Qubba mit den Gräbern der Könige vom Unland seit ewig! Aylal, damals war ich vielleicht so alt wie du heute. Als mein Vater mich hierher brachte, fürchtete ich mich wie du, mein Sohn! Aber du und Ikken, ihr braucht keine Angst zu haben! Ich bin bei euch!"
„Ich verstehe dich nicht Baba, KeYNamM-baba. Du weißt nicht, wo das Qubba ist, wo der Marabout wohnt, was weißt du eigentlich? An was erinnerst du dich denn noch?", flehte Aylal. „Es ist schon bald Mitternacht und wir müssen den Steinalten treffen wenn der runde Mond am höchsten steht. Aber wo ist der Mond? Wen können wir nach dem Weg fragen? Wen nach dem Mond? Wohnen nur Tote hier oder gibt es auch Lebende?" „Ich weiß es nicht Aylal, ich weiß es nicht Ikken. Aber schaut nur, die Pferde kennen den Weg! Schaut doch, sie laufen geradeaus und wie schnell! Sie wittern das Ziel! Habt keine Angst, meine Söhne, wir werden beim Marabout sein, wenn der Mond aufgeht!"
Die Pferde trugen sie weiter auf dem sandverwehten Weg durch die Mitte der Stadt, dem Platz im Zentrum mit den Steinbänken um den ausgetrockneten Brunnen, weiter durchs Dunkel nach Süden. Als sie den Südrand der Stadt erreichten, fielen ihre Augen auf einen quadratischen Bau, eine Qubba, eine besondere, eine Qubba ohne Kuppel, ein Bau, bei dem ein hochstehender Mond den Innenhof ausleuchten konnte. Aber noch schienen nur die Sterne. Alle Drei, KeYNamM, Ikken und Aylal, wusste, dass es die richtige Qubba war. Sie wussten es einfach, auch ihre Reittiere wussten es und schnaubten wie Pferde, die ihren Stall am vertrauten Geruch erkennen.
Die Grabstätte der Könige vom Draa brauchte keinen Schutz vor Wind und Wetter, sie war wie die Könige selbst. Diese waren so unbezähmbar wie der Draa. Die Qubba stand auf einer kleinen Erhebung, an dessen Fuß trockenes Gestrüpp den Zugang zum Bau erschwerte. Die Pferde wurden plötzlich noch schneller, schlugen den Weg zur Erhebung ein und blieben am Rand des Gestrüpps stehen. Wortlos stieg der Amestan vom Pferd und schob das Gestrüpp zur Seite. Ein Weg zu einem Ziehbrunnen wurde sichtbar.
Am Brunnenrand stand ein Ledereimer, der am Seil einer Winde hing. Der Amestan warf den Eimer in den dunklen Brunnenschacht. Derweilen rannte Aylal den schmalen Pfad zur Qubba hinauf. Der Eimer sauste eine kleine Ewigkeit lang in die Tiefe. Erst als das Seil fast ganz von der Winde abgespult war, hörte Ikken den Eimer auf der Wasseroberfläche aufschlagen.
KeYNamM und Ikken holten den vollen Eimer mit Mühe hoch, gossen das kalte Wasser in den Trog neben dem Brunnen, an dem die Pferde schon ungeduldig mit den Hufen im Sand scharrten. Sie holten noch drei Eimer mit Wasser aus der Tiefe und füllten den Trog bis zum Rand.
Als die Pferde ihren Durst gestillt hatten, befahl KeYNamM, „Zieh dich aus Ikken, ganz aus, nimm auch den Tukumbut ab, steig in den Trog und knie nieder!" Dann goss KeYNamM das Wasser des vierten Eimers über Ikken's Kopf. „Der Marabout erwartet dich rein, Ikken! Auch dich Aylal!", rief er, drehte sich um und suchte den kleineren seiner Söhne. „Komm her Aylal, zieh dich aus!"
Aylal, der gerade von seinem Ausflug zur Qubba zurückkam, wickelte den blauen Turban vom Kopf, zog das verschwitzte Hemd über den Kopf, stieg aus der Hose und stieg nackt in den Trog, dabei fragte er. „Musst du dich auch waschen, KeYNamM-baba? Musst du auch rein sein?" „Ja! Das Heiligtum dürfen nur die betreten, die rein sind." „Aber ich konnte keinen Eingang finden! Ich habe das ganze Gebäude umrundet und fand weder Türen noch Fenster. Die Mauern sind undurchdringlich. Sie sind hoch und abweisend. Durch keinen Spalt dringt Licht in die Nacht heraus! Wohnt der Marabout wirklich in der Qubba?"
Nach dem Bad stiegen KeYNamM und seine beiden Söhne nackt den steilen Weg zur dunklen Qubba hoch. In der Nachtkühle lief Ikken Gänsehaut über den Rücken und Aylal's Zähne klapperten. „Hast du Angst, Brüderchen, Bruder Vögelchen? Hast du Angst? Hast du Angst, wie damals, als wir KeYNamM-baba befreiten?" „Nein! Nie habe ich Angst gehabt!", war seine Antwort, „Nicht heute, nicht damals. Wenn der Amestan da ist, habe ich nie Angst!"
„Still, still, lasst mich nachdenken!" KeYNamM tastete die Lehmmauer der Qubba ab. "Hier war es, hier muss der Eingang zum Innenhof gewesen sein. Helft suchen!" Ikken tastete die Mauer links von KeYNamM ab, Aylal rechts von ihm. Nichts! Sie kehrten zu KeYNamM zurück, der grübelnd auf dem Boden hockte, den Rücken gegen die Mauer gedrückt. Frierend und zittern hocken sie sich neben ihn, rechts der eine, links der andere. Als er ihnen die Arme um die Schultern legte, um sie zu trösten, wusste er, dass jetzt ein neues Band geformt wurde, ein Band das halten würde, auch wenn Schwierigkeiten auftauchten. „Lasst uns die Qubba gemeinsam umrunden. Die Nacht ist dunkel und der Mond muss noch am Himmel hochsteigen. Sechs Augen sehen mehr als zwei. Geh'n wir rechts um die Qubba."
Sie froren, waren müde und der Pfad um die Qubba war uneben, steinig, mit harten Kiesel übersät, voll tiefer Löcher. Bis zur ersten Ecke entdeckten sie keine Unregelmäßigkeit in der Mauer, die auf einen Eingang hingedeutet hätte. Auf der rechten Seite des quadratischen Baues ragte die Mauer glatt bis zum Nachthimmel auf, ebenso auf der Rückseite. Auf der linken Seite war der Abhang neben dem schmalen Pfad noch steiler als an den anderen Seiten. Vorsichtig tasteten sie sich entlang der Mauer zur Vorderseite der Qubba zurück. „Wir müssen die Qubba nochmals umrunden. Vielleicht haben wir in der Dunkelheit den Eingang übersehen", tröstete der Amestan seine Söhne.
„Aber du hast doch hier gelebt KeYNamM-baba, du musst doch wissen, wo der Eingang ist!", beschwerte sich Aylal, „Ich bin müde!" „Ja, lass uns gehen, lass uns den Eingang suche! Irgendwo muss er sein! Mir ist kalt. Wir müssen uns bewegen!", mahnte Ikken mit klappernden Zähnen.
Sie umrundeten den Bau ein zweites Mal. Nichts, kein Eingang. Dann versuchten sie es ein drittes Mal. Als sie jetzt etwa in der Mitte der Rückseite der Qubba angekommen waren, raschelte es in den Büschen am Abhang unterhalb der Mauer und ein langschwänziges Tier flüchtete in die Wüste. Für den Amestan und Ikken war er nur ein grauer Schatten in der Nacht. Weder der KeYNamM, noch der kleine König Gaya konnten erkennen, was für ein Tier es war. Aylal jedoch sah die großen Augen des kleinen Tieres, die das Sternenlicht eine Moment reflektierten, er sah die langen Ohren und den langen Schwanz. „Ein Fennek, ein Wüstenfuchs", flüsterte er, „Vielleicht hat er den Marabout gefüttert, vielleicht hat er ihm unsere Ankunft gemeldet und ihn gebeten noch zu warten, auf uns zu warten."
„Fenneks werden nie zahm. Wüstenfüchse dienen den Menschen nicht. Sie sind unabhängig und frei! Sicher hat er dort nur seinen Bau!", versuchte KeYNamM die Illusion Aylal's zu zerstören.
„Lass uns nachsehen, KeYNamM-baba. Bitte! Komm!" Damit zog Aylal den Amestan hinunter zu der Stelle, an der der Wüstenfuchs das Strauchwerk verlassen hatte.
Ikken war schneller als die beiden. Als er unten das Gestrüpp zur Seite bog, sah er ein dunkles Loch im Hang. Es war höher und breiter als der Eingang einer Fuchshöhle. Es war fast mannshoch und führte waagrecht in den Hügel der Qubba hinein. Ikken tastete mit der Hand die Wände des Tunnels ab, dann schob er den lockeren Sand, der auf dem Boden lag, mit dem Fuß zur Seite und rief dann zurück, „Den Gang haben Menschen gebaut. Er hat glatte Wände und sein Boden ist mit Steinplatten belegt, glatten und quadratischen Platten, wie sie nur in Häusern anzutreffen sind. Es ist der Gang in die Qubba. Sicher! Beeilt euch! Er führt uns hinein zu den Gräbern der Könige, zum Uralten."
KeYNamM zögerte, „Wir haben kein Licht, ohne Fackel oder Laterne können wir nicht einfach ins Dunkle hinein. Wir wissen nicht, ob der Gang intakt ist oder eingestürzt. Wir wissen auch nicht, ob er wirklich in die Qubba führt!"
„Ich gehe, KeYNamM, du hast selbst gesagt, wir müssen die Grabstätte der Könige betreten, bevor der runde Mond am höchsten steht und mit dem Marabout sprechen, bevor der Mond hinter dem Gebirge versinkt. Mitternacht ist schon vorbei, schau auf den Stand der Sterne! Wir haben kaum noch Zeit."
„Aber der Mond scheint doch nicht! Es ist immer noch dunkel, obwohl Vollmond sein müsste! Die Sandwolken verdecken ihn! Lass uns warten!", zögerte der Amestan.
Ikken schlüpfte als Erster in den Gang. Aylal folgte ihm und dann KeYNamM, noch recht zögerlich. Der Gang wurde nicht schmaler, auch nicht niedriger. Er führte leicht bergauf. Nach etwa fünfzig Schritten endete er an einer Holztür, wie Ikken mit den Händen fühlen konnte. Inzwischen hatten sich seine Augen so an die Dunkelheit gewöhnt, dass er den schwachen Lichtschimmer wahrnahm, der unter der Tür hervorkroch. Er tastete nach einem Schloss oder Riegel. Als er nichts fand, drückte er gegen die Holztür, sie schwang zurück! Das Licht der Sterne blendete die Drei.
Jetzt standen die Drei im leeren Innenhof. KeYNamM hatte seinen Söhnen wieder die Arme über die Schultern gelegt, wie ein Vater, der seine Söhne schützen will. Sie starrten auf die dunklen Wände, die himmelhoch aufragten, und versuchten zu erraten, was sich hinter ihnen befand. In keiner konnten sie eine Tür erblicken, keine Fensteröffnung, nur glatte Mauern, die an den dunklen Nachthimmel stießen.
„Bist du es Füchslein?", fragte plötzlich eine brüchige Stimme. „Bist du es Füchslein? Ich habe dir doch gesagt, dass du mir nichts mehr zu essen bringen brauchst. Du weißt es Füchslein! Dies ist meine letzte Nacht. Ich will noch diese eine Nacht warten, diese eine Nacht! Wenn sie nicht kommen, wird die Herrschaft der Könige enden, der Könige vom Unland, der Könige der Wüste."
KeYNamM und Ikken lauschten noch, als Aylal sich losriss und dorthin stürmte, woher die Stimme kam, „Vater, Uralter, wir sind da. Du brauchst nicht mehr auf das Licht des Vollmonds zu warten, denn wir sind hier, Aylal, Ikken und Draa, den du KeYNamM getauft hast."
„Ja Vater, Uralter, wir sind da, Aylal, der kleine Vogel mit dem blauen Turban, Ikken mit der roten Kappe von König Gaya und KeYNamM, dessen Bestimmung du vor den Menschen verborgen hast!", rief Ikken ins Dunkel.
„Ja Vater, Uralter, wir sind endlich da, meine Söhne Aylal und Ikken, und ich Draa, der nun den Namen wieder tragen darf, dem ihn seine Mutter gegeben hat, den Namen, den alle Herrschern des Unlands tragen und den Namen, den ich an meinen jüngsten Sohn weitergebe. Wir Aylal, Ikken und KeYNamM, den seine Mutter Draa nannte, werden die Menschen des Unlands und der Wüste beschützen und verteidigen. Niemand wird jemals wieder von ihnen Unterwerfung und Tribut verlangen!"
Plötzlich stieg der Mond über den Rand der südliche Mauer der Qubba und sein Licht flutete in den engen Innenhof. Aylal, Ikken und Draa, genannt KeYNamM, starrten auf die Stelle der Mauer von der her die Stimme erklungen war. Aber die Mauer war glatt und ohne eine einzige Öffnung. Niemand stand dort! Alle Mauern des Innenhofs waren vollkommen glatt, nur dort wo der Durchlass endete, der ihnen der Fennek gewiesen hatte, war eine Öffnung in der Mauer.
Draa, Ikken und Aylal verbeugten sich vor der Mauer aus der die Stimme des uralten, unsichtbaren Marabout erklungen war. Die Drei verbeugten sich tief, drehten sich um und traten nackt wie sie waren, durch die Pforte in den Gang, der zurück zur Außenwelt führte. Der Amestan zog die schwere Holztür mit ruhigem Gewissen zu, denn der Wüstenfuchs wusste, dass er nicht mehr zum Uralten kommen musste Die Drei durchschritten den dunklen Gang mit festen Schritten, Aylal zuerst, dann Ikken und zum Schluss Draa, auch KeYNamM genannt.
Hand in Hand kamen sie am Brunnen an. Fanden dort ihre Kleider und zogen sich an, während die Pferde im Mondlicht schon ungeduldig stampften. Aylal wickelte sich den blauen Schal zu einem Turban um den Kopf, Ikken setzte König Gaya's Hut auf und Draa ließ seine Haare wild und frei im Nachtwind flattern.
Der Weg zurück von der Qubba ohne Kuppel am Südende von Tamegroute, über den Platz im Zentrum bis zu den letzten Häuser im Norden der Stadt, erschien den Dreien viel kürzer als der Weg zu der geheimnisvollen Qubba. Jetzt im hellen Mondlicht leuchteten Schriftzeichen und Arabesken an den Wänden der quaderförmigen Bauten links und rechts der sandigen Straße. Das Wasser im Trog neben dem Stadtbrunnen funkelte im Mondlicht. Fledermäuse jagten Nachtfalter und riesige Käfer in der kühlen Nachtluft. Eulen glitten lautlos aus ihren Verstecken in den Kuppeln der Grabmäler und spähten nach Mäuse, die über die mondhellen Pfade huschten. Katzen strichen um die Bauten, lauerten auf den ersten Vogel, den die Sonne aufwecken würde. Hunde spielten verliebt miteinander. Sogar die Abzweigungen von den Straßen, die bei Anbruch der Nacht ins Nichts zu führen schienen, endeten jetzt in Rosengärten und Rosenduft erfüllte die Nacht. Menschen jedoch waren jedoch nicht zu sehen.
Als der kleine Trupp mit Ikken an der Spitze in den steinigen Pfad zum ersten Anstieg des Gebirges einbog, tauchten auf dem Pass weit über ihnen Reiter auf. Einer der Reiter löste sich aus der Gruppe und kam ihnen im gestreckten Galopp entgegen. Er kam nicht allein, sondern führte ein weißes Pferd am Zügel mit sich. Schon vom weitem hörte sie ihn Rufe ausstoßen. Ikken konnte die Rufe nicht verstehen, erkannte jedoch die Stimme sofort. Er stachelte seinen kleinen Rappen mit den Fersen zum Galopp an und ritt dem Herannahenden entgegen. Als die beiden nur noch so weit voneinander entfernt waren, dass Ikken die Augen seines Freundes im Mondlicht blitzen sah, verstand er auch die Rufe, „Ikken, Ikken, mein Freund, mein Bruder, mein liebster Kamerad, Ikken! König Gaya, sei gegrüßt!" Ikken stellte sich in den Steigbügeln auf und winkte mit beiden Armen, „Yufayyur, mein Bruder, mein Freund, mein Herz! Du bist heute noch schöner als der Mond! Bruder, Bruder, Bruder!" Als sie auf halber Höhe des Berges aufeinander trafen, sprangen beide von ihrem Pferd und fielen sich in die Arme, als hätten sie sich seit Jahren nicht mehr gesehen.
Als KeYNamM und Aylal zu den beiden aufgeschlossen hatten, nahm Yufayyur die Zügel des weißen Pferdes, legte sie Ikken in die Hände und sprach feierlich, „Kleiner König Gaya, der Amenokal, der König aller Klans die die Wüste bevölkern, sendet dir seine Grüße. Hier, nimm sein Lieblingspferd, den Schimmel, der ihm weder im Frieden noch im Kampf je im Stich gelassen hat. Er sei fortan dein. Nimm das Geschenk an, denn du wirst der nächste Führer der Wüstensöhne sein." Yufayyur wartete einen Augenblick und sagte dann traurig, „Der Amenokal ist sehr krank. Er bittet dich schnell wie der Wind zu ihm zu eilen. Er hat die große Versammlung aller Klans für Heute in sieben Tagen einberufen. Dort wirst du den Oberhäuptern der Klans, den Marabouts und den weisen Frauen vorgestellt und sie werden dir den Treueeid schwören."
Ikken begriff zuerst nichts. Was beabsichtigte der Amenokal? Warum er? Warum sollte er an seine Stelle treten? Er, der Junge, der aus der Fremde kam, aus dem Imperium? Er schüttelte den Kopf! „Das kann nicht sein! Ich bin nur ein einfacher Junge aus Tinghir! Macht mich der rote Hut zum König? Tarit hat diese Ehre verdient! Du, mein Bruder Yufayyur hast diese Ehre verdient! Viele der mächtigen Söhne der Wüste haben diese Ehre verdient! Warum ich? Ich nicht!"
KeYNamM nahm seine Hand. „Du bist der Erwählte, Ikken! Zweifle nicht am Segen des Marabouts und an der Weitsicht der weisen Frauen. Wie du mir die Freiheit gebracht hast, so wirst du sie auch den Wüstensöhnen bringen. Der alte Amenokal ist weise. Steig auf seinen Schimmel, er wird dich wie der Wind zu deinem Volk bringen."
Aylal sah sie zuerst, den Reiter auf einem großen Rappen und viele Pferdelängen dahinter einen Knaben und einen Halbwüchsigen auf einem grauen Esel. Ihnen folgte eine seltsame Prozession. Kleine und große Kinder, zu Fuß oder auf kleinen Pferden oder grauen Eseln. „KeYNamM-baba, Baba, schau, die ersten Menschen, die uns begegnen, seit Ikken mit Yufayyur und den Wüstenreitern nach Osten abgebogen sind. Glaubst du, die wollen nach Tamegroute? Wissen die, dass dort keine Menschen leben?"
Der Amestan, der nicht auf die Umgebung geachtet hatte, schreckte aus seinen Gedanken. Der plötzliche Abschied von Ikken hatte sein Leben verändert. Er musste zugeben, Ikken fehlte ihm. Er hätte schon viel früher erkennen müssen, dass ihnen getrennte Wege bestimmt waren. Er hätte es seit dem Moment wissen müssen, als die seltsame Kleiderhändlerin Ikken den roten Tukumbut aufgesetzt hatte. Er erinnerte sich noch deutlich, was sie damals gesagt hatte. „Diesen Hut habe ich von meiner Urahne bekommen und die hatte ihn von ihrer Urahne und die wieder von ihrer. Dieser rote Tukumbut ist durch die Zeiten gewandert, von einer weisen Frau zur anderen. Ja, diesen Hut hat König Gaya vor langer, langer Zeit einer weisen Frau mit den Worten geschenkt: 'Gib meinen Hut dem, der die Macht hat, die Klans der Wüstensöhne zu vereinen, wie ich sie geeint habe.'"
Aber ihm blieb Aylal. Er erinnerte sich deutlich, was er in der Qubba versprochen hatte, „Wir Aylal, Ikken und Draa, den du Uralter den ewigen Namen der Könige des Draa, KeYNamM, gabst, werden die Menschen des Unlands und der Wüste beschützen und verteidigen." Aber wem hatte er dieses Versprechen gegeben? Wo war der Uralte gewesen? Keiner von ihnen hatte ihn entdecken können, weder Aylal, noch Ikken, noch er selbst. Hatten die Mauern der Qubba zu ihnen gesprochen? Hatten die toten Könige des Unlands aus ihren Gräbern zu ihnen gesprochen? War die Stimme nur in ihrem Kopf gewesen? War es die Stimme seines Marabouts, seines Erziehers, die noch in diesen Mauern lebte? Lebte der Uralte noch? Aber alle drei hatten die Stimme gehört, hatten die gleichen Worte vernommen: „Du weist es Füchslein, es ist meine letzte Nacht. Ich will noch eine Nacht warten, diese Nacht. Wenn sie nicht rechtzeitig kommen, Draa und seine Söhne, wird die Herrschaft der Könige enden, der Könige vom Unland am Draa und der Könige der Wüste. Aber sie waren rechtzeitig gekommen!"
KeYNamM schreckte aus seinen Gedanken auf. Er folgte mit seinen Blicken Aylal's ausgestreckter Hand und sah den Mann auf dem großen Rappen und dahinter den kleinen grauen Esel mit zwei Reitern, der mit den Pferd nur mühsam Schritthalten konnte, und dahinter die nicht endenwollende Prozession von Kindern. Alle kamen das Tal vom Draa herauf ins Gebirge, ihnen entgegen.
Er und Aylal hatten gerade die Passstraße von Tamegroute her überquert und wollten den Geröllhang herunterreiten, der in das Seitental des Draa hinunterführte. Der Amestan brauchte nur einen Wimpernschlag, bis er erkannte, wer der Reiter auf dem großen Pferd war. Er gab seinem müden Pferd einen aufmunternden Klaps, dass daraufhin den Steilhang hinunter zu galoppieren begann, während er mit den Armen winkte und lauthals rief, „Anir, Anir!" Seine Stimme überschlug sich vor Aufregung, „Anir, Freund, suchst du mich? Hast du meinetwegen den Weg ins Unbekannte gewagt? Wolltest du mich finden?"
„KeYNamM! Draa! Du bist es! Endlich! Ich habe eine gute Nachricht!" Anir hielt sein Pferd an und beobachtete KeYNamM gespannt, dessen Pferd auf der Hinterhand das Geröllfeld herunterzurutschen begann. In Talgrund stießen ihre Pferde fast zusammen. Im letzten Moment konnte Anir den Zusammenstoß vermeiden, sprang vom Pferd und fing KeYNamM auf, der aus dem Sattel rutschte.
Die beiden Männer umarmten sich und begannen einander zu herzen wie Kinder. „Ich bringe dir gute Nachricht, Amestan!", sprudelte es aus Anir heraus, als sie endlich wieder zu Atem gekommen waren. „Eine wirklich gute Nachricht, mein Liebster! Der alte Imperator ist gestorben und der neue, sein junger Sohn, will Frieden mit allen Nachbarn. Er kommt nach Tinghir, um den neuen Gouverneur offiziell in sein Amt einzusetzen und er lädt dich zu der Feier ein, dich, den König vom Unland. Er will das Tributabkommen in einen Freundschaftsvertrag umwandeln! Er will auch mit dem Amenokal Frieden schließen. Dazu braucht er auch deine Hilfe!"
„Nenn mich Draa, mein Liebster, nenn mich nie mehr KeYNamM, denn ich bin nicht mehr KeYNamM, nicht mehr der Amestan!", als Anir ungläubig blickte und schon eine Frage auf den Lippen hatte, lachte Draa, „Nenn mich Draa! Schau dort!", und er deutete auf Aylal, der inzwischen die beiden Reiter des grauen Eselchens, die Brüder Idder und Saden, mit fröhlichem Geschrei begrüßt hatte. Die anderen Kinder umringten die Drei und jeder wollte Aylal umarmen. „Schau Ankläger, dort steht der neue Amestan! Es ist Aylal, Aylal das Vögelchen! Aylal wird immer Aylal bleiben. Er wird den Namen KeYNamM tragen, aber er wird auch den Namen Draa erben."
Dann lächelte Draa seinen Freund Anir zu, „Was die Völker der Wüste angeht? Der Amenokal liegt im Sterben und den neuen Amenokal kennst du. Ich weiß, du liebst ihn wie einen Sohn." Als Anir ihn unsicher anblickte, fuhr er fort, „Es ist Ikken, unser Ikken. Er ist der zukünftige Herrscher der Wüstensöhne."
„So wird Frieden zwischen dem Imperium, dem Königreich am Draa und den Söhnen der Wüste entstehen. Schau, mein Freund Draa!" Anir deutete dabei auf die Kinder, die sich um Aylal und seine Freunde Idder und Saden versammelt hatten, „Schau auf die Kinder, sie werden dem neuen Amestan folgen, und die Söhne der Wüste werden Ikken, ihrem neuen Amenokal, folgen, wie die des Imperiums dem neuen Imperator folgen werden und es wird ewiger Frieden und ewige Freundschaft herrschen, zwischen dem Unland, dem Reich der Wüstensöhne und dem Imperium!