Madz ~ Schulzeit ~ (German)

Kapitel 6: Die Folterkammer in der Burgruine

Pünktlich um vier Uhr stand ich vor dem Schuppen in dem Pollux seine Suzi, sein Motorrad eine rote Suzuki 500, untergestellt hatte. Trotz der vom Himmel brennenden Frühlingssonne hatte meine Mutter mich gezwungen lange Hosen anzuziehen, dazu einen Pullover und darüber noch einen Anorak. „Auf dem Motorrad zieht's.“ Als ich gottergeben nickte, kam als nächstes „Ich komm mit. Ich muss sicher gehn, dass Du bei der Abfahrt einen Helm trägst.“ Das war mehr als ich ertragen konnte, „Nein! Biiiite Mama, lass mich allein gehen. Ich bin doch kein Baby mehr!“ flehte ich sie an, „Bitte!“ Sie schien mich verstanden zu haben und blieb zu hause. So stand ich jetzt stolz allein am Schuppen in der heißen Sonne und trat vor Aufregung von einem Fuß auf den anderen und schwitzte! Hoffentlich kommt Pollux bald! Ging mir durch den Kopf. Hoffentlich hat er mich nicht vergessen! Ich trat von einem Fuß auf den anderen und konnt‘s vor  Aufregung fast nicht aushalten.

Endlich! Endlich bog Lehrer Beck, also mein Pollux, um die Ecke, einen Motorradhelm in der Hand. „Das dauerte!“ stöhnte er! In der Autowerkstatt fragte ich nach, ob sie mir für Dich einen kleinen Helm leihen könnten. „Klar!“ hieß es. „Aber der war dann verschwunden. Endlich stöberte ihn Meister Apfel im Kinderzimmer auf. Anton, sein Sohn, hatte ihn zum Spielen missbraucht.“ Pollux drückte mir schnell den Helm auf den Kopf. Der war zwar klein, jedoch der immer noch zu groß und rutsche mir fast über die Augen. Ich versuchte ihn krampfhaft hochzuschieben, aber er rutschte mir immer wieder über die Augen. „Geht nicht anders! Du musst halt den Kopf immer nach hinten halten, wenn Du etwas sehen willst.“ Dann jedoch grinste er, „Madz, du siehst aus wie ein kleiner Ritter, der in ein Turnier den großen König besiegen will!“

Sobald Pollux seine Suzi aus dem Schuppen geholt hatte, erblickte ich mich im Rückspiegel des Motorrads. Ich sah wirklich komisch aus. Zwerg mit Riesenkopf! Fiel mir sofort ein! Dann ging‘s auch schon los! Pollux startete die Maschine und wir stiegen auf. „Halt dich gut an mir fest! Leg mir beide Armen um die Mitte und drück deinen Kopf fest an meinen Rücken.“

Ab ging‘s. Vom Schulhaus erst den steilen Berg runter, dann entlang des Flusses, im nächsten Dorf ein kleines Seitental hoch und wir waren im hügelige Bauländle. Hier fegten wir auf der schmalen Landstraße wie der Frühlingswind über die noch kahlen Felder, mindestens kam es mir so vor. Alleinstehende Bauernhöfe flogen vorbei, Kühe auf der Weide, Erlen entlang des schmalen Baches. Im nächsten Dorf. musste Pollux abbremsen und eine Weile hinter einem Bauern herfahren, der eine rauschige Sau durchs Dorf trieb. Wohin natürlich? Zum Eber! Die Sau brach immer wieder aus und wollte zurück in ihren vertrauten Stall. Er musste sie wieder einfangen, drückte ihr einen Korb über den Kopf und weiter ging’s. Bestimmt ahnte nichts von ihrem Glück, vom Eber, der grunzend und geifernd auf sie wartete. Endlich kamen wir an den beiden vorbei.

Außerhalb des Dorfes bevor Pollux die Suzi noch voll beschleunigen konnte, versperrte uns eine Schafherde den Weg über eine schmale Brücke. Die Hütehunde versuchten die Schafe auf der engen Straße mit der abschüssigen Böschung zu halten. Sie kläfften und stießen die Mutterschafe mit den Nasen zurück auf die Straße. Die Mütter blökten nach ihrem Nachwuchs und die Lämmchen mähten nach ihren Müttern. Pollux musste anhalten, um die Herde vorbei zu lassen. Ich kletterte vom Motorrad, setzte den Helm ab und stürzte mich zwischen die Tiere der Herde. Dort suchte ich das kleinste Lämmchen, nahm das strampelnde Tier auf den Arm und schmuste mit ihm. Während ich dem Kleinen gut zuredete, drängte ich mich durch die Herde zu Pollux. „Schau wie süß das Schäfchen ist, Pollux!“ Zum Beweis, küsste das verängstigte Tier auf die Nase, „Schau was für schöne Augen es hat. Ganz blaue, wie der Himmel so blau! Streichle es doch, sein Fell ist o weich!“ Da kam auch schon der Schäfer und lobte mich „So einen Lehrling wie Dich such ich schon lange!“ Pollux lachte ihn an, „Ne, ne, meinen Madz gib ich nicht her!“ „Einen solchen Bubn würd ich auch nicht hergeben! Ist er sonst auch so lieb?“ lachte der Schäfer und kümmerte sich um seine Tiere. Ich strahlte, stellte das Lämmchen vorsichtig auf seine Beine, das sofort nach seine Mutter zu mähen begann.

Und weiter ging's. Auf der Bundesstraße angekommen flogen wir an Autos vorbei, die im Stau standen. Dann ging’s zunächst nicht weiter. Wir mussten wie die Autos am Bahnübergang die Vorbeifahrt eines ewiglangen Güterzugs abwarten. Kurz danach bretterte Pollux mit Suzi ins nächste Seitental, den Burgberg hinauf, durchs offene Burgtor und wir standen mit knatterndem Motor vor Castors Burg, also vor Kaplan Carlo Carstens und seiner Behausung, dem alten Burggebäude.

#######

Castor wartete schon. Er war das Gegenteil von Pollux. Die beiden schienen sich seit der Zeit zu der sie sich zum ersten Mal begegnet waren kaum verändert zu haben. Pollux war schlank, fast mager und nur größer und muskulöser als als 12-Jähriger, während Castor seine rundliche Figur von damals behalten hatte. Er war etwa so groß wie Pollux, wirkte aber wuchtiger, da die Hose von seinem Bauch voll ausgefüllt wurde. Seine Haare jedoch waren noch immer feuerrot und standen wie damals in einer Igelfrisur zum Himmel.

„Grüß Gott, Grüß Gott! Ihr seid spät! Um ein Haar hätte ich den Kuchen mit Anders allein gegessen.“ dann drehte er sich zur Tür „Anders, komm raus meine Gäste sind da!“ Castor begrüßte erst Pollux mit einer festen Umarmung und half mir dann von Suzi. „Du bist also Magnus, der Madz, der Ganymed! Willkommen! Darf ich Dich ebenfalls Madz nennen?“

Als er mir den Helm vom Kopf zog, fing er an zu grinsen. „Jetzt weiß ich warum Paul Dich Ganymed nennt. Du riechst wie ein Hirte. Was benutzt Du denn als Parfüm?“ Ich verstummte verlegen, aber Pollux half sofort aus, „Du hast Glück, fast hätte er das Parfüm mitgebracht. Unterwegs mussten wir eine Schafherde vorbeilassen und er hat das süßeste Lämmchen sofort auf den in Arm genommen.“ Dann drehte er sich zum Eingang des Palas zu, aus dem Andreas, also Anders, seinen Kopf vorsichtig herausstreckte, „Komm rüber Anders, komm! Madz ist schon ganz gespannt auf Dich. Er will Dich unbedingt kennenlernen und mit Dir nach dem verborgenen Schatz suchen.“

Ich musterte Anders von Kopf bis Fuß. Er war größer als ich, vielleicht einen halben Kopf oder vielleicht doch mehr einen ganzen. Seine Haare waren auch viel heller als meine und verdeckten fast die Augen.

Anders kniff die Augen zusammen und runzelte die Stirn. Er hatte gehofft Madz wäre etwa so groß wie er. Aber der war viel kleiner. Er sah auch mickriger aus. Der ist bestimmt erst 10 Jahre alt, war sein erster Gedanke. Konnte der ihn beim Schatzsuchen unterstützen? Er wackelte nachdenklich mit dem Kopf. Dann wurde er jedoch überrascht. Madz's Händedruck war kräftig. Fast hätte Anders vor Erstaunen laut aufgeschrien.

Ich strich mir die vom Helm verstrubbelten Haare aus dem Gesicht, lachte Anders an und boxte ihn in den Oberarm. „Mann, bist Du groß! Du hast Muskeln! Trainierst Du viel?“ Das löste die Spannung, „Nee, aber wenn Du öfters her kommst, muss ich das wohl, dein Schlag tut ganz schön weh!“

„Was sich haut, das liebt sich!“ rief Pollux zu den Beiden hinüber. „So fing unsere Freundschaft auch an, stimmt‘s Carlo! Jetzt sind wir schon seit 16 Jahre die besten Freunde!“ Damit legte er den Arm um Carlos Schulter. Ich machte es ihm nach, stellte mich auf die Zehenspitzen, legte den Arm um Anders, „Werden wir Freunde? Magst Du?“ Anders löste sich aus der Umarmung, trat zurück, musterte mich nochmals genau und schüttelte den Kopf abwägend, „Weiß nicht? Du bist doch erst zehn und ich schon dreizehn. Meine Schulkameraden würden mich auslachen, wenn sie uns zusammen sehn.“„Ich bin schon fast elf, also nur zwei Jahre jünger. Das macht doch fast gar nichts.“ schnell drehte ich Anders den Rücken zu, denn er sollte nicht sehen, dass ich Tränen der Enttäuschung in den Augen hatte.  Andreas merkte das jedoch sofort. „Komm Kleiner, ich habe doch gesagt, ich weiß noch nicht! Wir kennen uns doch gar nicht! Vielleicht magst Du mich ja auch nicht, wenn Du mich kennengelernt hast! Ich versprech‘s Dir Madz, wenn ich Dich mag, dann ich pfeif drauf, was meine Schulkameraden sagen.“ Castor und Pollux hatten uns genau beobachtet. Als wir uns jetzt nach ihnen umdrehten rief Carlo, „Probier‘s doch! Ich wette das klappt. Anders hilf Madz doch mit seinem Rucksack und zeig ihm, wo sein Zimmer ist. Dann wascht euch die Hände und kommt Kuchen essen!“

#######

Vom der ehemals weitläufigen Burg war nur noch wenig stehen geblieben. Neben dem Bergfried und der Kapelle nur noch ein Flügel des Haupthauses, des Palas. Dort wohnte jetzt Castor. In seinem Unterstock befand sich eine große Halle, mit einer Decke, die zwei Stockwerke hoch war. An der Hinterwand und der rechten Seitenwand der Halle standen Bücherregale und hingen alte Bilder. An der Rückwand führte eine Freitreppe zu einer Galerie, von der Türen in die Zimmer der Oberstocks führten. Links neben dem Eingangstand ein riesiger Esstisch mit Stühlen unterschiedlichster Herkunft, rechts ein breites Sofa, davor ein runder Tisch und zwei große Sessel. In der linken Seitenwand führte eine Tür in die Küche und eine weitere in einen Raum, der als Badezimmer diente.

Als Anders mich durch die Riesenhalle, also Carlos Wohnzimmer, zur Treppe führte, konnte ich die Bilder genauer studieren. Eines zeigte einen Bischofs in Habit, ein anderes einen Offizier in Uniform, ein drittes einen Heiligen auf Knien vor eine Marienstatue. Neben der Treppe hing der ausgestopfte Kopf eines Ebers mit großen gebogenen Hauern. Der Kronleuchte über den Esstisch war aus Hirschgeweihstangen zusammengesetzt. Er war breiter als der Tisch selbst. Ich war so ins Schauen gekommen, das ich beinahe auf der ersten Treppenstufe gestolpert wäre. Doch Anders fing mich auf. „Zum Glück bist Du kein Riese Madz, sonst hät ich Dich nicht halten können.“ lachte Anders. „Siehst Du jetzt Anders, dass ein kleiner Freund auch Vorteile hat!“ rief uns Pollux hinterher.

#######

Durch die zwei Spitzbogenfenster drang nur wenig Tageslicht in das Gästezimmer. Eine dicke, alte Rotbuche, die zwischen dem Burggebäude und dem Bergfried den gesamten Raum einnahm, filterte die Helligkeit heraus. Im schmalen Raum war es daher recht düster und kühl. Rechts der Tür an der Seitenwand stand ein breites Bett mit buntem Überwurf, auf der linken Zimmerseite befanden sich ein Schreibtisch und ein Bücherregal. Daneben führte eine schmale Tür zum Nachbarzimmer. Die Tür war verschlossen.

Ich stürzte sich sofort zum Bücherschrank, war jedoch enttäuscht, da ich nur Bücher in lateinischer Sprache fand und keine Ritterromane. Auf dem Schreibtisch stand jedoch ein Marmeladenglas mit Stiften und daneben lagen ein Heft und ein Zeichenblock. Das söhnte mich aus, da ich gern zeichnete.

Andres hatte sich mittlerweile bäuchlings auf das Bett geworfen. „Das Bett ist weich. Du wirst bestimmt gut schlafen!“ Dann zog er die Beine an, als würde er frieren, „Aber es ist ziemlich kühl hier drin.“ „Stimmt, es ist dunkel und etwas unheimlich! Glaubst Du, Anders, dass es in der Burg geistert?“ „Geistern? Im Dorf erzählen sie sich von einer Weißen Frau, die im Winter hier umgehen soll und bei Sommerstürmen soll ein Ritter in Rüstung durchs Haus poltern. Ich glaub's aber nicht.“ Mich gruselte als ich das hörte, obwohl im Pfarrhaus. In dem ich in Gondersdorf wohnte, auch ein Geist umgehen sollte. Den  hatte ich aber nie gesehen. „Und Dein Veit Scharpf, Dein Räuberhauptmann, polterte der auch hier drin?“ „Weiß nicht! Vielleicht ist er ja der Ritter. Wenn wir heute ein Gewitter bekommen, kannst Du ihn ja fragen!“

Mir wurde allmählich unheimlich. „Schläfst Du bei mir? Hier ist es unheimlich und so kalt, mir läuft schon jetzt die Gänsehaut über den Rücken.“ Andres, musterte mich skeptisch, „Hee Madz, Du bist doch noch kleiner als Du vorgibst! Mach Dir bloß nicht in die Hose.“ Die Bemerkung machte mich traurig. Anders merkte das sofort, lachte und schlug vor, „Weißt Du was Madz, wenn Du den Kaplan überreden kannst, dann bleib ich gerne hier und beschütz Dich! Ich würd zu gern einmal hier in der Burg schlafen.“ „Ich brauch Deinen Schutz nicht, ich bin so alte Häuser gewohnt, aber trotzdem es wäre schön, wenn Du bei mir schlafen würdest.“ Ich überlegte einen Moment, „Glaubst Du Anders der Kaplan erlaubt‘s? Ich frag ihn heute Abend.“ „Aber es ist doch nur ein Bett hier für uns zwei! Ob er das erlaubt?“ Anders wiegte den Kopf skeptisch hin und her. “Vielleicht gibt’s hier irgendwo Matratzen und eine Decke.“ Ich rieb mir kurz die Nase und wusste plötzlich die Lösung. „Anders, Du hast behauptet, ich sei noch soooo klein!“ Dabei deutete ich mit den Händen an, wie klein. „Doch Du bist ja auch kein Riese! Glaubst Du wir dürfen uns das Bett teilen? Ich bin aber nur dann einverstanden, wenn Du versprichst keinesfalls hinein zu pinkeln! Vor allem darfst Du mich nicht kitzeln. Sonst schrei ich die ganze Burg wach.“ „Einverstanden Bobäle. Nur wenn Du schnarchst, kitzel ich Dich bis Du aufwachst. Wenn Alies laut schnarcht, kitzele ich ihn auch immer wach.“ Bobäle, so hatte mich noch niemand genannt. Also protestierte ich sofort. „Ich heiß Madz oder Magnus, ich heiße nicht Bobäle! Was ist ein Bobäle überhaupt?“ wollte ich wissen, denn ich kannte den Ausdruck nicht. „Bobäle sagn die Leut hier zu kleinen Kindern, wenn die lieb sind.“ Dann kicherte er, „Bist Du lieb?“ Ich steckte Anders schnell die Zunge raus, drehte mich weg und dachte dabei, ich ein Baby, ein Bobäle? Protestiere jedoch nicht weiter. Anders merkte das und lachte, „Wusst ich doch, dass Du die Bezeichnung magst! Du magst mein Bobäle sein, gell?“

#######

Alies hatte Anders, also seinen Halbbruder, außer Streuselkuchen auch Schweinsohren zur Vesper mitgegeben. Schweinsohren, so groß wie ich sie zuvor nie gegessen hatte. Ich staunte, ob ich überhaupt mit einem der handgroßen Gebäckstücke fertig werden konnte, nachdem wir den Kuchen schon verschlungen hatten? Als Anders rülpste, weil er ebenfalls mehr als satt war, ermahnte ich ihn „Man rülpst nicht! Wenn ich das zuhause mache, dann schickt mich meine Großmutter sofort vom Tisch! Also bitte!“ Paul und Carlo lachten, weil ich mich wie ein Erwachsener aufführte. Anders jedoch beugte sich zu mir hinüber und flüsterte, „Alies, meinen Bruder, stört Rülpsen nicht und wenn ich pupse, nennt er mich Kleiner Stinker und fragt brauchst Du eine Windel?

Paul, d.h. Pollux, deutete schmunzelnd auf die Schweinsohren. „Vergesst die nicht, morgen sind sie nicht mehr so lecker!“ damit schob er jedem von uns eines auf den Teller. Hier in Stadt Hallberg waren Schweinsohren nicht nur ein trockenes Blätterteigstück! Nein Schweinsohren waren zwei goldbraun gebackene, glänzende Blätterteilbrezeln, die mit einer fingerdicken Sahnecreme zusammen geklebt waren. Eine Ecke des Gebäcks war in dicke Schokolade gehüllt. Ich und Anders bissen fast gleichzeitig in unsere Schweinsohren rein und als uns die Creme über die Finger quoll, leckten wie diese glücklich ab. „Bei Tisch leckt sich der vornehme Herr nicht die Finger! Wo bleibt der Anstand!“ lachte jetzt Carlo und noch mehr lachte er, als auch Paul mit der Zunge nachhelfen musste, um seine Finger rein zu kriegen. Alies hatte vorsichtshalber fünf Schweinsohren besorgt. Als jetzt jeder sein Gebäckstück aufgegessen hatte, klatsche Carlo in die Hände, „Wer vernichtet das letzte, sonst regnet's morgen.“ Anders und ich griffen fast gleichzeitig zu. Ergebnis: das Schweinsohr landete auf der Tischdecke. Paul schnappte es, nahm ein Messer und teilte es gerecht zwischen Anders und mir auf.

Sobald der letzte Brösel verschlungen, begann Anders ungeduldig auf dem Stuhl herumzurutschen, „Können wir jetzt endlich in den Turm, Kaplan Carstens? Gleich wird’s dunkel sein.“ „Ungeduldig?“ grinste der, „Aber nennt mich doch beide beim Vornamen, ich tu‘s ja auch. Ich heiße Carlo!“ Dann kramte er den Schlüssel aus der Hosentasche und reichte ihn Anders. „Drinnen gibt’s Licht! Aber heute besichtigen wir nur den Turm, in die Unterwelt, also das Verlies in dem Veit schmorte, lass ich euch erst morgen, wenn‘s heller ist!“ Als wir wegrannten rief er uns nach, §Der Lichtschalter ist gleich neben dem Eingang!“

Anders zog mich an der Hand zum Turm. Beinahe hätte er mir den Arm ausgerissen, so eilig hatte er es. Der Eingang zum Bergfried war in einem niedrigen Vorbau. Von dem ging es durch einen dämmrige Raum und einen Torbogen in den eigentlichen Bergfried. Während Anders am Eingang nach dem Lichtschalter suchte, war ich schon im Turminneren verschwunden. Drinnen war‘s dunkel, da die Schießscharten rund herum nur wenige Licht in den Raum herein ließen. Auch vom nächsten Stockwerk, zu dem eine Treppe hinaufführte, sickerte nur wenig Licht herab.

Der düstere Raum war mit seltsamen Gegenständen vollgestellt. Neben der Treppe lehnte eine lange Leiter an der Wand, daneben hingen, soweit ich im Dämmerlicht erkennen konnte, allerlei Ketten, Zangen, Sägen und Werkszeuge, deren Zweck nicht erraten konnte. Mitten im Raum stand etwas, was mich an einen Königsthron erinnerte. Doch war der irgendwie anders. Im schwachen Licht konnte ich weder Polster noch goldschimmernde Ornamente entdecken. Dagegen ragten spitze Zacken aus Lehne und Sitz. Gleich daneben ragte ein mannshoher Käfig auf. Er war viel zu groß und zu breit für einen Vogelbauer. Vielleicht war er ja für Adler bestimmt. Aber Adler gab es hier im Bauländle schon lange nicht mehr. Und Drachen? Die gab‘s nur in Märchen und Sagen und die Siegfriedsage spielt weit weg von hier im Odenwald! Der Käfig musste also einem anderen Zweck dienen! Dafür sprachen auch, dass die armdicken Käfigstangen mit langen Stacheln besetzt waren, die ins Käfiginnere ragten. Wer sollte da hinein gesperrt werden? Mir kam ein Verdacht. Ich hatte doch etwas von Eisenkörben an einer Kirche in Münster gehört! Dort hatten sie Ketzer in solche Käfige gesperrt und hoch oben am Kirchturm aufgehängt. Neben dem Käfig standen ein langer Tisch, der Name Tafel würde besser passen, mit allerlei Werkzeugen und Büchern und ein Sägebock. Ein Sägebock konnte das Gestell aber nicht sein. Er war fast mannshoch und außerdem war der Sägebalken mit langen Dornen besetzt. Für was wurde denn so ein Sägebock benutzt?

Plötzlich begann mir Gänsehaut den Rücken runter zu laufen. War mir nur kalt oder fürchte ich mich? Ein Luftzug vom Eingang her verstärkte die Gänsehaut noch. Erschrocken rief ich, „Komm mach Anders, mach Licht, mach doch endlich das Licht an! Anders!“ Eigentlich wollte ich schreien, „Ich bekomm allmählich Angst hier drin!“ Tat‘s aber nicht. Ich durfte mir doch vor Anders keine Blöße geben. Also und hielt den Mund und zitterte weiter. Zum Glück rief Anders auch schon „Ich finde den Lichtschalter nicht. Aber der Kaplan kommt gerade, der weiß bestimmt wo der Schalter ist, Madz.“

Plötzlich flammte eine einsame Lampe auf, die mitten im Zimmer von der Decke hing und Carlo, Paul und Anders drängten sich durch den Türbogen. Ich stand immer noch zitternd vor dem hohen Sägebock. Ich fühlte mich ganz verlassen, als Paul mir seinen Arm um die Schultern legte und mich an sich zog. Sogleich war alles gut, besonders als er mich lobte, „Du bist tapfer Madz, wie ein richtiger Hirte. Hirten haben auch keine Angst, weder im Dunkeln noch vor bösen Wölfen.“

„Wisst Ihr was das ist? Dieses Pferd ohne Kopf?“ wandte sich Carlo an uns und deutete auf den mannshohen Sägebock „Der wird Spanischer Esel genannt!“ Da er nur fragende Blicke erntete, begann er zu erklärten, „Auf dem Gestell, also dem Esel, wurden Verbrecher und abtrünnige Christen von den Richtern hochnotpeinlich befragt. Seht ihr die Zacken auf dem Rücken?“ Er deutete auf sie, „Die Befragten mussten sich mit nackten Hintern auf den mit Zacken bespickten Balken setzen. Natürlich drangen die Zacken nach kurzer Zeit in ihren Po. Wenn die erst mal tief genug eingedrungen waren und Gemarterten die Schmerzen nicht mehr aushalten konnten, gestanden sie alles was das Gericht verlangte.“ „Und wenn sie nicht gestehen wollten.“ fragte Anders. „Ja dann wurden Gewichte an ihre Füße gehängt, damit sich die Zacken noch tiefer in ihren Körper bohren. Bald heulten und jammerten die Armen und gaben dann alles zu, was das Gericht wissen wollte.“

„Was war, wenn sie schon vorher die Wahrheit gesagt hatten oder wenn sie das gar nicht gemacht hatten, was das Gericht ihnen vorwarf? Wenn sie unschuldig waren?“ wandte ich ein. „Das interessierte die Richter oft gar nicht! Die wollten nur das hören, was sie oder ihr Fürst von dem Beschuldigten hören wollten.“

Carlo zog die Jungen weiter in den Raum bis vor den Thron. „Glaubt ihr an Hexen? Glaubt ihr daran, das Frauen auf einem Besenstiel zum Blocksberg fliegen, um dort mit dem Teufel Walpurgisnacht zu feiern?“ Ich schüttelte den Kopf. Anders aber sagte, „Unser Nachbar nennt die alte bucklige Frau, die weiter unten in der Straße wohnt, immer Hex, alte Hex! Die alte Hex, sagt er, die bringt Unglück über das ganze Dorf, die tanzt mit den Satan auf dem Blocksberg und dann verhext sie das Vieh!“ Dabei blickte Anders unsicher zwischen Paul und Carlo hin und her, „Ich glaub aber nicht, dass der Alte Recht hat. Die Frau ist nämlich immer nett zu mir!“ „Darfst Du auch nicht, Anders, Hexen gibt es nicht!“ bestärkte Paul Anders in seiner Meinung.

„Aber vor 500 Jahren glaubten die Menschen an Hexen und auch an Hexer. Sogar Pfarrer und Bischöfe glaubten das!“ er deutete auf den Thronsessel. „Weil damals fast alle Christen überzeugt waren, dass alte Weiber hexen konnten, wollten sie auch beweisen, dass es die alte Weiber waren, die ihren Nachbarn Unglück an den Hals wünschten! Das war aber gar nicht leicht zu beweisen, denn es gibt ja gar keine Hexen!“ „Ja,“ nahm Carlo den Faden der Geschichte auf, „Es gab verschiedene Hexenproben, mit denen der Nachweis geführt werden sollte, Wasserprobe zum Beispiel, die mit heißem oder mit kaltem Wasser. Bei der Hexenprobe mit heißem Wasser musste die beschuldigte Frau mit einem Arm in einem Eimer mit kochendem Wasser fassen und einen geweihten Ring herausholen, der auf dem Grund des Eimers lag. Wenn ihr Arm danach nicht verbrüht war, wurde sie von der Beschuldigung freigesprochen. Bei der kalten Wasserprobe wurde die Beschuldigte an ein Holzkreuz gefesselt und mit dem Kreuz auf dem Rücken in einen Teich geworfen. Wenn Frau und Kreuz untergingen, war sie keine Hexe und sie wurde freigesprochen. Trieb sie dagegen samt Kreuz auf dem Wasser und war sie eine Hexe.“ „Und was geschah mit den Frauen, wenn sie die Hexenproben nicht bestanden hatten?“ wandte ich mich an Carlo. „Die Überführten aber wurden auf dem Scheiterhaufen verbrannt, die Freigesprochenen konnten nach Hause gehen.“ „Wurden viele verbrannt, Carlo? „Madz, Du kannst Dir nicht vorstellen wie viele angebliche Hexen in Europa verbrannt wurden! Fast 60.000! Aber nicht nur Frauen wurden als Hexen verbrannt, sondern auch Männer. Von den 60.000 Opfern waren bestimmt 10.000 Männer.“

„Geständnisse wurden auch noch auf andere Weise erpresst, nicht nur mit dem spanischen Esel!“ Paul deutete auf den hohen Sitz mit Lehne. „Der Thron hier heißt Hexenthron Er wird aber auch Judasthron genannt. Die Marter wurde so durchgeführt, Der Beschuldigte, d.h. der vermeintliche Hexer, wurde auf diesen Thron gesetzt. Das Opfer wurde auf dem Stuhl festgebunden und stundenlang befragt. Wie ihr seht ragen Nägel aus dem Sitz, aus der Rückenlehne, aus den Armlehnen und Fußstützen heraus. Während des hochnotpeinlichen Verhörs drangen die Nägel langsam in das Fleisch der Befragten ein. Immer tiefer drangen sie ein, bis der Beschuldigte aus Verzweiflung alles zugab, was die Richter wollten.“

„Wurde Veit Scharpf von Profoss auch so gefoltert, damit er gesteht, wo er das geraubte Gold und die Edelsteine versteckt hat!“ wollte Anders aufgeregt wissen. „Vielleicht, vielleicht auch nicht, Anders!“ nickte Carlo, “Aber sicher wurde er nicht so stark gefoltert, das er dabei verstarb, denn dann hätten sie ja nicht erfahren können, wo der Schatz versteckt war.“

„Früher kannten die noch andere Foltermethoden, z.B. den Kopf des Beschuldigten unter Wasser halten oder den Beschuldigten an Ketten aufhängen oder in die Streckbank spannen.“ Paul zog uns zum anderen Ende des Gewölbes, „Hier, seht ihr die breite Leiter mit der Rolle am unteren Ende. Seht ihr die Kurbel an der Rolle? Das war ein wichtiges Marterinstrument. Diese Leiter wurde Streckbank genannt. Der Beschuldigte musste sich der Länge nach auf die Leiter legen, sodass seine Füße zur Rolle zeigten. Seine Arme wurden über seinem Kopf an eine Sprosse gebunden und seine Beine mit Seilen gefesselt, die an der Rolle festgemacht waren. Dann drehten die Folterknechte die Rolle und wickelten die Seile darauf auf, bis der Körper ganz gespannt war. Dann erst begann die Folter. Wenn die Folterknechte weiterdrehten, sprang ein Knochen nach dem anderen aus seinem Gelenk, erst aus den Arm- und Schultergelenken, dann aus den Beingelenken. Natürlich schrien die Gefolterten wie am Spieß aber die Folterknechte drehten die Kurbel so lange bis der Beschuldigte ein Geständnis ablegte oder starb. Die meisten überlebten die Streckbank nicht.“

„Hör auf, hör auf!“ schrie ich, „Ich will davon nichts mehr hören. Ich will auch nichts über die andern Folterinstrumente hören, die hier an der Wand hängen oder auf dem Tisch liegen. Ich will raus!“ Ich drehte mich um und rannte zum Ausgang. Anders aber wollte noch mehr erfahren. „Was ist das für ein Käfig dort?“ Carlo jedoch zog ihn schnell aus dem Foltermuseum, „Ich glaube wir gehen besser an die frische Luft. Dort kann ich Dir sogar zeigen, wo der Käfig aufgehängt wurde.“ Draußen zeigte Carlo auf einen großen Haken in der Turmmauer. „Der Käfig war für Verurteilte. Die wurden in den Käfig gesperrt. Der wurde mit einer Seilwinde zu dem großen Haken hochgezogen und dort aufgehängt. Die Verurteilten mussten im Käfig bleiben und waren dem Spott der Menschen ausgesetzt.“ „Wie lange mussten sie dort hängen?“ wollte Anders wissen. Manche bestimmt bis sie verhungert oder verdurstet waren, andere wurden schon nach einigen Tagen mit dem Käfig heruntergelassen und wurden frei. Manchmal wurde auch der Leichnam eines Hingerichteten so ausgestellt. Damit wollte die Obrigkeit ihre Untertanen warnen.“

Ich jedoch hörte die letzte Erklärung nicht mehr, sondern war Hals über Kopf zurück in das Burggebäude gestürzt. Als Paul nachkam, fand er mich auf dem Sofa zusammengerollt wie ein Baby und laut schluchzend. Er setzte sich neben mich und streichelte mir über Rücken, „Oh Junge, oh mein Ganymed, hat Dich das so mitgenommen? Brauchst keine Angst zu haben, heute ist die Folter abgeschafft! Wirklich, Du brauchst keine Angst zu haben. Glaub mir!“

Ich hatte mich schon etwas beruhigt, als Carlo und Anders hereinkamen, weinte aber noch leise vor mich hin. Anders aber ergriff die günstige Gelegenheit. „Bobäle, Bobäle, brauchst keine Angst zu haben. Ich bin doch bei Dir.“ und er begann mich zu drücken. „Wenn Du willst, schlafe ich auch heute Nacht bei Dir und beschütz Dich.“ Dann drehte er sich zu Carlo, „Kann ich bei Madz schlafen Herr Kaplan? Ich kann ihn doch so nicht allein lassen, bitte! Er hat doch dann Angst.“ „Das muss Madz entscheiden und Dein Bruder Alies. Unserthalben ja. Einverstanden Paul?“ „Vielleicht ist das das Beste, aber nur wenn Madz auch damit einverstanden ist. Ich möchte nicht, dass er seiner Mutter sagt, er konnte hier vor Angst nicht schlafen. Dann erlaubt sie ihm bestimmt nicht mehr mitzufahren.“ Als ich das hört, setzte ich mich mit Tränen in den Augen auf und bat, „Es wäre schön, wenn Anders bei mir bleiben könnte, das Bett ist groß genug für uns beide. Bitte Carlo, bitte Herr Kaplan! Erlaub es.“

##############

##########

#####