KeYNamM ~ König ohne Namen ~ German

Kapitel 24: Freunde ~ Verbündete

„Ich muss Tirizi die Nachricht selbst überbringen, wie und wo ihre Tochter ermordet wurde. Das ist meine Aufgabe, Stadthauptmann!" Dann zögerte Anir, „Vielleicht sind sogar noch Tadla's alte Eltern hier? Ich weiß nicht, wie ich die trösten könnte!" Das hatte der Ankläger erklärt, als er und der Stadthauptmann gegen Mittag die vorläufigen Untersuchungen zur Ermordung des Gouverneurs und zu dessen ruchlosem Treiben abgeschlossen hatten.

Im Verlauf der Untersuchung, hatten die beiden noch mehr Hinweise darauf gefunden, dass der Gouverneur selbst die bestialischen Massenmorde durchgeführt oder dass diese zumindest in seiner Folterkammer durchgeführt worden waren. In Truhen in einer Nische der Folterkammer fanden sich weitere Kleider, Kopfschmuck und Armbänder wie sie junge Mädchen lieben und Hemden und Hosen, die typisch für Jungen vom Grenzland und Unland waren. Sogar allerlei Gegenstände, wie sie kleine Jungen gern in ihren Taschen herumtragen, hatte der Gouverneur hier aufgehoben. Eigentlich reichten diese Fundstücke und die Aussagen der Dienerinnen aus, um die Schuld des Gouverneurs zu beweisen. Die beiden beschlossen jedoch, die Erlaubnis des Imperators für weitergehende Untersuchungen einzuholen, da dieses Verbrechen jeden Rahmen sprengte, der ihnen bekannt war, und darüber hinaus den höchsten Vertreter des Imperators in der Stadt betraf. Der Stadthauptmann ordnete daher eine Sicherung und die strengste Bewachung sowohl der Gouverneursvilla, als auch des unterirdischen Raumes an, in denen die Verbrechen begangen worden waren.

Anir stand jetzt vor der Herberge zum „Durstigen Kamel" und zögerte die Karawanserei zu betreten. Das hatte mehrere Gründe. Einmal war er dem Stadthauptmann gegenüber nicht ehrlich gewesen. Er hatte behauptet, dass er niemanden in Verdacht habe. Das stimmte natürlich nicht. Der eigentliche Grund Tirizi's Herberge aufzusuchen, war seine Überzeugung, dass der Amestan den Gouverneur getötet hatte. Anir's Meinung nach hatte KeYNamM allen Grund für eine solche Tat und billigte sein Handeln instinktiv. Als Staatsanwalt war er jedoch überzeugt, dass niemand die Gerechtigkeit selbst in die Hand nehmen durfte. Er rechtfertige sein Handeln daher damit, dass er sich noch einmal die Gründe vor Augen führte, die den Amestan zu dieser Tat bewogen haben könnten. Da war die Tatsache, dass KeYNamM als Verfemter kaum die Möglichkeit hatte, den obersten Vertreter des Imperiums in Tinghir anzuklagen. Dann waren da die Gründe, deretwegen KeYNamM das Imperium bekämpfte, wie die als Tribut kaschierten Raubzüge der Häscher des Imperators im Draatal und die Verschleppung der Frauen, Mädchen und Jungen in die Sklaverei. Dazu kam die Bedrohung unter der KeYNamM als Amestan, d.h. Beschützer der Menschen vom Draa, dauernd leben musste und schließlich hatte der Gouverneur Geld auf seinen Kopf ausgesetzt und das war keine zu geringe Summe. Diese war seit der Befreiung der Strafgefangenen aus dem Straflager bei der Kristallmine verdreifacht worden. Der Grund für die Erhöhung des Kopfgelds war dreifach, der Gouverneur machte KeYNamM nicht nur für die Gefangenenbefreiung, sondern auch für den Überfall auf den Kristalltransport und schließlich auch noch für die Niederlage der Strafexpedition gegen die Wüstensöhne verantwortlich.

Die Dienerinnen des nun toten Gouverneurs hatten jedoch von drei Eindringlingen gesprochen, Lalla von drei großen Geistern und Kella von einem großen Jinn und zwei schmächtigen Jinns. Auf seine Nachfrage hatte sie eingeräumt, dass es sich auch um einen Mann und zwei Jungen hätte handeln können. Also Ikken und Tanan? Was lag näher? Warum aber sollte KeYNamM die beiden mitnehmen, überlegte Anir. Im Fall von Ikken lagen die Gründe klar auf der Hand. Der Junge hatte jeden Grund Gouverneur Gwasila zu hassen, schließlich hatte dieser seinen Vater ermorden lassen und später noch die Muhme, die ihn und Aylal aufgezogen hatte. Jetzt, nach Aufdeckung der Verbrechen des Gouverneurs war Anir sicher, dass das Gerücht stimmte und Ikken's Vater nur hingerichtet worden war, damit sich der Gouverneur den Garten des Händlers aneignen konnte. Und die Muhme? Die hatte er ermordet, weil sie im nicht sagen konnte, wo sich die Jungen aufhielten. Aber halt, da war noch etwas. Es war nur ein Gerücht, aber eins das nicht verstummte, so unglaublich es auch für ihn, den Mann aus der Hauptstadt des Imperiums klang. Das gesamte Umland von Tinghir und selbst viele Stadtbewohner raunten, dass Ikken der Nachfolger von König Gaya wäre. Von dem König Gaya, der der Stammvater aller Wüstensöhne war. Alle kannten die Weissagung, dass König Gaya einmal als Knabe wiedergeboren werden würde und das dieser Knabe Frieden zwischen den Wüstensöhnen, den Menschen vom Unland und denen des Imperiums bringen würde. Viele kannten die Prophezeiung und glaubten sie und die weisen Frauen hatten beschworen, dass der wiedergeborene König niemand anderes als Ikken sei. Ikken war also auch in Gefahr, in höchster Gefahr sogar, und er und KeYNamM wussten, dass man der Gefahr am besten entgeht, indem man ihr zuvorkommt. Aber Tanan? Was hatte Tanan damit zu tun? Er konnte sich keinen Reim darauf machen und der Grund, warum Tirizi ihren Sohn als Kleinkind weggeben musste, war ihm unbekannt. Aber Anir glaubte Tanan zu verstehen, einen Jungen, dem das Imperium seine Mutter vorenthalten hatte. So sehr Anir den Mord verurteilte, so war ihm doch klar, dass ohne die Tat der drei das Geheimnis des Gouverneurs nie ans Tageslicht gekommen wäre.

Dann aber gab es noch etwas, etwas was einem Ankläger nie passieren durfte. Ihm Anir, dem Staatsanwalt und Ankläger des Imperators, war KeYNamM im Verlauf des schändlichen Prozesses nach dessen Sieg auf der Himmelsleiter so ans Herz gewachsen, wie noch nie jemand zuvor. Hatte er sich in KeYNamM verliebt? Anir wollte das nicht wahr haben, aber sein Herz sagte, dass es so war. Seit dem Tag des Scheinprozesses wünschte er sich KeYNamM zum Freund. Ihn zum Freund haben und jetzt auch dessen Söhne, Ikken, Aylal und Tanan! Was gäbe es schöneres.

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Anir traf Tirizi in ihrem Wohnzimmer hinter dem Gastraum an. Sie war verweint, ihre Augen waren rot, die Schminke von Tränenspuren durchzogen. „Tadla ist tot!", begrüßte er sie, „Aber der Stadthauptmann und ich sind uns sicher, wer das bestialische Monster war. Wir sind sicher, niemand anderes als Gouverneur Gwasila hat diesen Mord und all die anderen nicht aufgeklärten Morde begangen. Gouverneur Gwasila war ein Mörder und Serientäter! Sag es jedoch bitte nicht weiter, liebe Tirizi, nicht zu diesem Zeitpunkt, denn es ist noch nicht offiziell. Aber glaube mir, der Stadthauptmann und ich werden es beweisen!" Als Tirizi nicht antwortete und ihr erneut Tränen aus den Augen quollen, setzte er hinzu, „Ich weiß, das ist kein Trost. Aber wenn in Zukunft keine Morde mehr passieren, dann haben wir es auch Tadla zu verdanken!" Als die Herbergswirtin wiederum nur verzweifelt aufschluchzte, trat Anir hinter sie, legte die Arme um sie, „Wie kann ich dich trösten? Wo ist KeYNamM, Tanan und Ikken, um dich zu trösten und aufzumuntern? Sind sie nicht hier?"

Anir spürte wie sich Tirizi verkrampfte bevor sie antwortete, „Heute Morgen waren alle drei weg. Ihre Sachen sind noch da, auch die Pferde. Sie müssen ganz früh in die Stadt sein, wahrscheinlich haben sie vom Tod des Gouverneurs gehört und sind jetzt unter den Neugierigen vor dem Gerichtshof."

„Wirklich?", entgegnete er skeptisch, „Wir suchen aber drei, einen Erwachsenen und zwei Jungen von 13 oder 14 Jahren. Sie haben etwas mit dem Tod des Gouverneurs zu tun!" Als Tirizi blass wurde und nicht antwortete, sprach er weiter „Ich würde gerne mit dem Amestan sprechen, wirklich! Er kann den Ort wählen, an dem wir uns treffen! Sag ihm das! Es besteht keine Gefahr, weder für ihn noch für die beiden Knaben. Ich selbst werde auch Boten durchs Land senden, um ihm die Nachricht zukommen zu lassen."

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Ikken sah die Hütte zuerst. Eigentlich war es nur ein Schilfdach auf vier kurzen Posten, so niedrig, dass er darunter nicht aufrecht stehen konnte. Er war vorausgelaufen, um als erster am Rinnsal in der flachen Senke anzukommen, die quer zum eingeschlagenen Weg in Richtung Draa führte. Er wollte sich so schnell wie möglich den Schweiß abwaschen, der während der Wanderung von Tinghir bis zur Grenze des Unlands auf seiner Haut angetrocknet war.

Am frühen Morgen, als noch nicht zu befürchten war, dass die Neuigkeit vom Tod des Gouverneurs den nächsten Marktflecken östlich von Tinghir erreicht hatte, säuberten sie sich an einem Brunnen und schlenderten anschließend über den Wochenmarkt, um sich mit Fladenbroten und Datteln zu versorgen. „Das wird für die nächsten drei Tage alles sein, was wir zu essen haben, es sei denn, uns läuft ein Huhn oder ein Schaf über den Weg", hatte KeYNamM betont, bevor sie anschließend den versteckten Weg durchs Grenzland zum Draa einschlugen, den sie schon bei ihrer ersten Flucht aus der Stadt genommen hatten. KeYNamM hatte recht gehabt. Den ganzen Tag über waren sie im trockenen Buschland niemandem begegnet, nicht einmal einem verlaufenen Huhn oder Schaf. Der zweite Tag der Flucht verlief genauso ereignislos wie der erste.

„Hier, hierher! KeYNamM, Tanan! Kommt hierher, hinter den Dornbüschen ist eine Hütte, da können wir übernachten!" Dann war Ikken den beiden zu der Senke voraus gelaufen, aber einen Bach fand er nicht, auch kein Wasser.

Sie beschlossen die Nacht unter dem Dach zu verbringen. Alle drei waren erschöpft und verschwitzt, durstig und hungrig, vor allem Tanan. Nachdem der ein ganzes Fladenbrot in sich hineingestopft und seine Ration Wasser bis zum letzten Tropfen getrunken hatte, fiel er wie tot um und war eingeschlafen, noch bevor Ikken sein Fladenbrot auch nur zur Hälfte aufgegessen hatte.

„Wie geht's jetzt weiter? Ich meine mit Tanan! Er hat mit unserer Abrechnung mit dem Gouverneur nichts zu tun und trotzdem hast du ihn mitgenommen?", fragte Ikken. Als KeYNamM seinem Adoptivsohn nicht sogleich antwortete, fuhr der fort „Tanan war dabei, als du den Gouverneur getötet hast und alle werden ihn für mitschuldig halten. Dabei hat er nichts gemacht, als den Gouverneur festzuhalten, als der strampelte. Ich dagegen hätte dem Gouverneur selbst die Gurgel durchgeschnitten, wenn du mich gelassen hättest."

„Ich glaube dir. Ich weiß, dass du ihm genauso den Tod gewünscht hattest wie ich. Aber glaube mir, es war besser, dass du ihn nicht töten musstest. Bisher hast du noch nie einen Menschen die Kehle durchschnitten, nur mit einem Pfeilschuss hast du einen anderen getötet. Jemanden die Gurgel durchzuschneiden, fällt viel schwerer! Glaub mir."

„Und warum hast du dann Tanan mitgenommen? Nun ist er gefährdet!"

„Tanan war es schon zuvor! Du kennst die Vorgeschichte nicht, nicht einmal Tirizi weiß genau, warum sie ihn weggeben musste! Aber sie hatte Angst, dass der Gouverneur ihren Tanan töten würde, sobald er erfuhr, dass er zu seiner Mutter zurückgekehrt ist."

„Warum musste sie Tanan überhaupt weggeben? Das war grausam. Genauso grausam war es, dass sie nie mit ihm Verbindung aufnehmen durfte!"

„Ich kann es dir heute nicht sagen. Nur so viel, er war in tödlicher Gefahr, solange der Gouverneur noch lebte. Der hatte den Befehl gegeben, Tanan sofort zu töten, wenn er in Tinghir auftaucht!"

Als hätte er mitbekommen, dass über ihn gesprochen wurde, begann Tanan zu jammern, warf sich hin und her und setzt sich schließlich mit geschlossenen Augen auf. „Wo bin ich? Ich will nicht allein sein! Ich ...!" Dann öffnete er die Augen und blinzelte, „Ikken bist du das? Bitte komm her, halte mich fest." Als Ikken sich neben ihn legte und umarmte, schlief Tanan sofort wieder ein.

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Gegen Morgen wurde Ikken durch das leise Scheppern kleiner Glöckchen geweckt. Als er gähnend aus der Schutzhütte kroch, schliefen die beiden anderen noch. Neugierig lief er das kurze Wegstück zum Pfad hinunter und stand plötzlich mitten in einer Ziegenherde. Die neugierigsten Tiere begannen sofort seine nackten Beine zu belecken, denn Ziegen lieben Salz und der eingetrocknete Schweiß enthielt genug davon. Während er die Tiere streichelte, hörte er eine brüchige Stimme, „He Junge!", als er sich umdrehte, „He, du da! Wo kommst du her? Dich habe ich hier noch nie gesehen und ich kenne jeden weit und breit!" Ein alter Mann bahnte sich seinen Weg durch die Herde, musterte ihn mit kurzsichtigen Augen und stellte fest, „Du bist nicht von hier! Bist du aus der Stadt? Aus Tinghir?" Ikken überlegte noch die passende Antwort, als ihn der Alte mit der Frage überraschte, „Ist es wahr, dass der Gouverneur tot ist? Drei böse Geister sollen den Gouverneur einen Kopf kleiner gemacht haben! Ist das wahr?", dann murmelte er kaum verständlich in seinen dichten Bart, „Hat Kel Essuf endlich seine Jinns nach ihm geschickt? Verdient hat er es, der Gouverneur."

Ikken musterte den Alten genauer. Trotz der am Mittag zu erwartenden Hitze hatte der mindestens drei Lagen Kleider übergezogen und seinen Kopf mit einem Turban bedeckt. Der ließ nur die Augen und den Bart frei. „Kommst du allein in die abgelegene Gegend?" Als Ikken noch immer nicht antwortete, stieß er ihn mit seinem Stock an, „Bist du taubstumm oder ein Jinn?"

„Ja Herr, ich komm aus der Tinghir, aber vom Gouverneur weiß ich nichts. Wir sind vor zwei Tagen schon ganz früh am Morgen aufgebrochen!"

Inzwischen standen KeYNamM und Tanan am Rand der Herde und wurden von den Ziegen ebenso beleckt, wie Ikken zuvor. Tanan war in seinem Element. Er streichelte eine Ziege, kraulte einer anderen den Bart, verteidigte sich gegen den Ziegenbock. Er sprach mit jedem Tier. Der Alte hatte Tanan sofort entdeckt und rief ihm zu, „Kommt her! Dich könnte ich gut gebrauchen. Du liebst Ziegen! Willst du bei mir bleiben?"

KeYNamM übernahm es dem Alten auszufragen, „Wer hat dir das erzählt über den Gouverneur? Was soll ihm passiert sein? Ermordet hast du gesagt, von Jinns?", er drängte sich durch die Tiere, „Ich dachte immer, Jinns arbeiten mit Zauber. Seit wann schneiden sie Köpfe ab?"

„So hat es der Bote erzählt, der aus der Stadt, der am Dorfbrunnen gestern am Abend Halt gemacht hat. Drei Jinns waren es, einer groß wie der Schaitan selbst und zwei kleine Jinns, seine Söhne", damit deutete er auf Ikken und Tanan, kicherte etwas und stieß Ikken wieder mit dem Stock an, „Wärst du ein richtiger Jinn, dann müsste ich Angst vor dir haben. Oder?", drehte sich dann KeYNamM zu, „Aber vielleicht habe ich doch eine Botschaft für euch drei! Der große Jinn soll mit ihm sprechen, mit dem Ankläger!" Als KeYNamM die Brauen fragend hochzog, „Ja, der Amestan soll sich beim Ankläger Anir melden. Den großen Jinn will Anir sprechen, unter allen Umständen, an jedem Ort den dieser auswählt, zu jeder Tages- oder Nachtzeit!" Als KeYNamM ihn erstaunt musterte, fügte er hinzu „Das sagte der Bote! Nicht nur mir. Er hat es am Brunnen verkündet und überall entlang seines Weges. Jeder der den Amestan trifft, soll es ihm ausrichten!" Dann wiegte er den Kopf, „Ich würde einem Boten aus der Stadt auch nicht trauen, aber glaubt mir Herr, ich habe in meinem Leben genug gesehen und er sprach die Wahrheit!"

Tanan, der sich inzwischen zu den drei gesellt hatte, räusperte sich, „Darf ich eine Ziege melken, Alter? Ich habe schon Tage und Tage keine Ziegenmilch mehr getrunken. Bitte!"

Im Weiterwandern, nachdem er Tanan erlaubt hatte, eine Ziege zu melken, drehte dich der Alte nochmals um und rief, „Etwas habe ich nicht verstanden, etwas was der Bote gesagt hat. Der Amestan soll den Prinzen schicken, hat der Ankläger dem Boten eingeschärft. Der Prinz hat in Tinghir nichts zu befürchten! Prinz Gaya hat niemanden zu fürchten. Prinz Gaya ist unantastbar."

War der alte Schäfer selbst der Bote? War er ein Hellseher? War er ein Medium? Sie berieten. Wenn die Botschaft wahr war, dann musste KeYNamM ergründen, warum der Ankläger ihn zu sprechen wünschte. Wenn der Ankläger ihn in eine Falle locken wollte, hätte er ihm nicht die Wahl des Ortes, der Zeit und der Umstände überlassen. Das sprach für die Glaubwürdigkeit des Angebots. Was dagegen sprach war, dass Ikken die Verbindung zwischen ihnen herstellen sollte. Fragen, Fragen, Fragen! Ikken löste das Problem auf seine Weise. „Ich gehe! Er hat mich Prinz Gaya genannt. Ich habe nichts zu befürchten!" „Ich komme mit, wo du hingehst, gehe auch ich hin!", entschied Tanan.

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KeYNamM hatte im Morgengrauen des übernächsten Tages Ikken und Tanan bis zum Marktflecken vor Tinghir begleitet. Heute hätten weder Tirizi noch Hiyya die beiden erkannt. Unterwegs hatten sie sich bei einem Lumpenhändler neu eingekleidet. Was heißt neu? Sie sahen in den zerfetzten Hemden, ausgefranste Hosen und abgetragenen Sandalen wie Bettlerjungen aus und niemand hätte erkannt, dass sie die Jinns seien, von denen ganz Tinghir sprach. Als die ersten Bauern im Morgengrauen mit ihren Eselskarren am Dorf vorbeikamen, bettelten sie so lange bis sich ein mürrischer Alter erbot, sie mit zur Stadt zu nehmen. „Einer von euch kann immer oben bei mir sitzen und sich ausruhen, der andere muss aber derweilen den Esel am Zügel führen, denn der ist heute störrischer als mein Weib und ich will noch am Vormittag auf dem Soukh sein!"

Der Esel war störrisch! Das störrische Tier blieb alle paar Schritte stehen und weigerte sich, die Last zu ziehen. Als der hochbeladene Wagen endlich am Tor angekommen war, führte Ikken gerade das Tier. Da er unerfahren im Umgang mit einem so störrischen Esel war, sah es aus, als würde er den Esel und den Karren gleichzeitig ziehen und nicht der Esel den Karren. Unter dem Spott der Wächter kamen sie unkontrolliert in die Stadt und zum Soukh. Während der Alte noch ablud, waren die beiden schon verschwunden, Tanan in Richtung der Herberge „Zum Durstigen Kamel" und Ikken zum Haus des Anklägers, dessen Adresse er von einem Wächter des Soukh erbeten hatte.

Anir hatte ein Haus auf der Seite des Stadtberges gekauft, die entgegengesetzt zu der lag, auf der die Gouverneursvilla und das Stadthaus lagen. Es war ein bescheidenes, altes Haus mit nur zwei Stockwerken und einem schmalen Garten, der sich den Berg hinaufzog. Anir lebte allein. Morgens jedoch in aller Früh kam eine Nachbarin, die ihm den Haushalt führte und kochte. Als Ikken vor der Tür nervös von einem Fuß auf den anderen trat und überlegt ob er anklopfen solle oder nicht, drang plötzlich der Duft frischgebackenen Fladenbrots durch die Türritzen. Der Duft und sein knurrender Magen gaben den Ausschlag. Er klopfte und als sich auf sein wiederholtes Klopfen nichts rührte, begann er gegen die Tür zu hämmern. Endlich riss die Frau die Tür auf. Als Ikken ihr fast in die Arme fiel, schimpfte sie lautstark mit ihm. „Bettler! Bettler schon am frühen Morgen! Weißt du nicht Bettlerjunge, wessen Haus das ist? Willst du eingesperrt werden? Du weißt, dass der Gouverneur zu betteln verboten hat! Scher dich weg und belästige meinen Herrn nicht, den Ankläger Anir!"

Anir hatte das Hämmern gehört und stand plötzlich hinter seiner Haushälterin. „Den Gouverneur gibt es nicht mehr und daher auch das Gesetz nicht! Aber hungrige Jungen gibt es immer!" Plötzlich leuchteten seine Augen auf, „Ich habe auf dich gewartet, mein Prinz. Also hat euch einer meiner Boten gefunden, dich, KeYNamM und Tanan!" Dann schob er die Frau zur Seite, „Komm, du hast bestimmt Hunger!" Die Haushälterin machte widerwillig Platz und schimpfte beim ins Haus gehen, „Diese Gesetzesänderung kenne ich nicht und einen Bettler Prinz nennen?", sie schnaubte, „Aber alles ändert sich, kaum ist der Gouverneur tot, da tanzen die Mäuse auf dem Soukh!"

Anir freute sich. Er zog Ikken in die Küche und wollte ihn zum essen nötigen, was er bestimmt gemacht hätte, hätte ihm nicht der Gestank von Ikken's schmutziger Kleidung den Appetit verschlagen. „Komm!", befahl er, und zog ihn hinaus in den Garten, „Zieh das Zeug aus!" Als Ikken nackt vor ihm stand, goss er ihm Wasser aus dem Brunnen über den Kopf bis Schmutz und Staub abgewaschen waren. Nur mit einem viel zu großen Hemd von Anir bekleidet, durfte sich Ikken dann an den Tisch setzen und mit dem Ankläger frühstücken.

Als Ikken ihre Backkunst in höchsten Tönen lobte, war die Haushälterin sofort versöhnt und sagte „Wenn ich auch nicht glaube, dass du ein Prinz bist, so bist du doch ein hübscher junger Mann mit guten Manieren." Anir schüttelte den Kopf über ihren Kommentar und als Ikken kurz darauf die Augen zufielen und er den Kopf auf den Tisch legte, befahl die Haushälterin dem Ankläger, „Legt deinen Prinzen doch ins Bett." Als der sie erstaunt anblickte, „In deines Ankläger oder hat in diesem Haus, außer dir, noch jemand ein Bett?" Dann wurde ihr Gesicht rot vor Verlegenheit und sie versuchte abzulenken, „Er kann hier bleiben, während ich auf dem Markt bin. Ihr müsst gehen, der Stadthauptmann wartet bestimmt schon auf euch. Er ist immer früh auf."

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Ikken spürte im Schlaf, dass ihn jemand anschaute, von Kopf bis Fuß genau studierte. Mit einem Ruck setzte er sich im Bett auf und sah sich um. Den großen Raum kannte er nicht. Er schien die Breite des gesamten Oberstocks des schmalen Hauses einzunehmen. An der Wand, dem niedrigen Bett gegenüber, stand ein langer schmaler Tisch, auf dem sich Stöße von Papier und dicke Folianten türmten. Davor standen ein Stuhl und mehrere dreibeinige Hocker. Auf letzteren stapelten sich ebenfalls Unterlagen. Wo in Häuser von Wohlhabenden bunte Teppiche hingen, waren hier große Leinentücher angebracht, die mit bunten Linien und kleinen Kästchen übersät waren. Jedes dieser Kästchen sah aus wie ein kleines Gemälde. Wie er später erfuhr, waren die Tücher Landkarten des Imperiums. Beiderseits des Zimmereingangs standen Truhen und niedrige Tische. An der Wand hinter dem Bett hingen ebenfalls solche Tücher mit Zeichen und kleinen Bilder. Erst als er den Kopf in Richtung des Ausgangs in den Garten drehte, bemerkte er die Silhouette eines Mannes, dessen schlanke Gestalt das hereinströmende Licht fast blockierte.

Ikken erschrak, als die Gestalt auf ihn zukam und sich an den Bettrand setzte. „Ausgeschlafen Prinz Gaya? Du musst ja sehr müde gewesen sein. Die Sonne hat ihren Zenit schon lange überschritten." Als Ikken von ihm wegrückte und sich eng an die Wand drückte, schmunzelte der Mann „Angst?" Jetzt erst erkannte er den Ankläger Anir und schüttelte verneinend den Kopf. Anir jedoch fuhr fort, „An deiner Stelle wäre ich auch auf der Hut, in einem fremden Bett, in einem fremden Zimmer, in einem fremden Haus!" Da Ikken nicht antwortete, „Ich war heute Morgen sehr erstaunt, dass du wirklich den Boten spielst. Du bist mutig! Ich habe jedoch nichts anderes von dir erwartet!"

„Der Amestan war zuerst misstrauisch, aber dann entschied er deiner Botschaft zu vertrauen. Tanan und ich vertrauen dir ebenfalls. Daher habe ich beschlossen, dir die Nachricht zu überbringen."

„Glaubst du, du kennst mich so gut? Wir haben uns bisher nur einmal gesehen."

„Ich weiß, wem ich trauen kann, Ankläger. Aber jetzt muss ich gehen. Ich werde später KeYNamM's Pferd und meines holen und heute in der Dämmerung vor dem Tor auf dich warten. Ich bringe dich zum Amestan! Du darfst aber nur allein kommen."

„Versprochen, aber jetzt raus. Ich glaube du bist halb verhungert, sonst hättest du mir am Morgen, nicht fast alle Fladenbrote weggegessen."

Ikken verschränkte die Arme verschämt auf der Brust, als er im zu großen Hemd des Anklägers mitten im Zimmer stand. Der Saum des dünnen, gewaschenen, alten Hemdes reichte bis unter die Knie und seine Hände verschwanden in den Ärmeln. Anir sah seine Verlegenheit und hob darauf einen Stapel Kleider vom Hocker, „Meine Haushälterin schenkt sie dir! Sie sind von ihren Söhnen! Die sind herausgewachsen und brauchen sie nicht mehr."

Beim Umziehen konnte der Ankläger nur staunen wie spindeldürr Ikken war und als der sich frisch eingekleidet zu ihm umdrehte, musste er seiner Haushälterin Recht geben. Vor ihm stand ein hübscher, ein wirklich hübscher, junger Mann in einem hellen Oberkleid mit bunten Borten und einer dunklen, knielangen Hose.

„Jetzt gehen wir essen! Du brauchst mehr Fett auf den Rippen." Ikken nickte erfreut. Als Anir noch hinzufügte „Wir gehen zu Tirizi, Tanan ist auch schon im Durstigen Kamel gesichtet worden", strahlte er noch mehr.

Tirizi staunte! Anir und Ikken! Ikken saß vor Anir auf dem großen Rappen, der den freien Arm fest um die Mitte des Jungen geschlungen hatte. Den ganzen Vormittag hatten Tirizi Sorgen geplagt, obwohl sie vor Freude über Tanan's unerwartete Rückkehr am liebsten Luftsprünge gemacht hätte. Sie hatte ihren erfahrensten Diener auf Kundschaft geschickt. Der hatte sich überall herumgetrieben, vor des Anklägers Haus, als dessen Haushälterin gerade zum Markt ging, vor dem Amtssitz des Stadthauptmanns, wo er diesen und Anir im Gesprächen vertieft sah, am Amtssitz des Gouverneurs und dem Gerichtsgebäude mit den Arrestzellen. Dort fragte er einen der Wächter, ob heute ein großer Junge eingeliefert worden sei, ein fremder, blondhaariger, junger Mann. Niemand hatte ihn gesehen. Der Wächter deutete auch nicht an, dass ein solcher verhaftet worden wäre. Keine der Beobachtung wies darauf hin, dass Ikken in der Stadt sei. Ikken war einfach von der Bildfläche verschwunden. Nach des Dieners Rückkehr war Tirizi noch mehr beunruhigt als zuvor.

Jetzt aber strahlte sie. Ikken und Anir, der Prinz und der Ankläger, bei ihr im „Durstigen Kamel!" Zuerst rief sie Tanan herbei. Dann ließ sie an Speisen auffahren, was Küche und Keller auf die Schnelle hergaben: knusprige Fladenbrote, Hirsebrei, saftigen Braten, Weintrauben, Datteln, Feigen, Limonenwasser. Sie bat Anir sich an eine der Schmalseiten des Tischs ihr gegenüber zu setzen, während Ikken und Tanan einander gegenüber an den Längsseiten Platz nehmen sollten.

Tirizi hatte die Tischordnung ohne ihren Sohn gemacht. Tanan stand auf, ging um den Tisch herum zu Ikken, fasste ihn an der Hand und führte ihn auf seine Seite. Dort saßen sie nun Schulter an Schulter, Tanan links, Ikken rechts. Während Tanan mit der Rechten zulangte, aß Ikken mit der Linken. Was sie mit der anderen Hand unter dem Tisch machten, war nicht zu sehen. Aber beide kicherten wie kleine Mädchen, was Tirizi und Anir strahlen ließ. Nach dem Essen verschwanden sie in Tanan's Zimmer, schlossen die Tür und ihr Kichern und lustiges Gekreische war im Wohnzimmer noch lange zu hören, bis es schließlich abebbte. Als Tirizi und Anir gegen Abend ihre Köpfe durch den Türspalt stecken, sahen sie zwei Jungen, die wie junge Hunde eng aneinandergeschmiegt schnarchten. Lange nachdem sich der Ankläger verabschiedet hatte, tauchten die beiden auf und staksten steifbeinig durchs Haus.

Als die Nacht die Schatten im Hof des „Durstigen Kamels" schon fast verschluckt hatte, sattelte Ikken sein Pferd und das KeYNamM's und machte sich auf den Weg vor das Stadttor. Tanan wollte ihn begleiten, was Ikken ablehnte, "Ich habe mit Anir abgemacht allein zu kommen, um ihn zum Amestan zu führen, aber nur dann, wenn er allein kommt." Als Tanan ihn zweifelnd ansah, beruhigte er seinen Freund, „Anir hat's beschworen! Was er verspricht hält er."

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Anir hatte Mühe rechtzeitig vor dem Stadttor einzutreffen. Der Tod des Gouverneurs hatte den normalen Ablauf der nächsten Tage vollständig durcheinandergebracht. Der Stadthauptmann hatte noch am Tag, als sie die Leiche des Gouverneurs und anschließend dessen Geheimnisse entdeckten, einen Boten mit einer ausführliche Schilderung der Ereignisse zur Hauptstadt des Imperiums gesendet. Der junge Imperator hatte sofort reagiert und einen neuen Gouverneur ernannt. Der war zwei Tage später eingetroffen und am Tor vom Stadthauptmann, vom Ankläger und wichtigen Persönlichkeiten der Stadt willkommen geheißen worden.

Anir war freudig überrascht, als er den neu ernannten Gouverneur sah! Es war sein Freund und Schulkamerad Yattuy 'der Lange'. Den Spitznamen 'der Lange' trug dieser seit der Studentenzeit, da er ungewöhnlich groß und dünn war. Da ihn alle seine Freunde so nannten, hatte er Yattuy jetzt zu seinem Namen gemacht.

„Langer, Langer!", rief Anir, „Yattuy, wer hätte das gedacht. Du und ich im gleichen Nest. Ein Nest ist es nur verglichen mit der Hauptstadt, aber schön ist es hier und aufregend!"

„Anir, mein Herzensbruder, du hast dich in den letzten Jahren gar nicht verändert. Doch, doch! Aus dem spindeldürren, bartlosen Wesen ist ein richtiger Mann geworden. Aber deine Augen leuchten immer noch wie früher! Anir, mein Anir! Mager bist du immer noch! Füttert dich deine Frau nicht genug?"

„Du kennst mich doch, ich halte nichts vom Heiraten, also bin ich immer noch allein."

„Das wirst du bereuen, wenn du erst Thiyya kennenlernst, meine schöne Thiyya und meine drei Söhne. Merin, der älteste ist jetzt schon fast acht und ein aufgewecktes Bürschchen! Und die andern, einer lieber als der andere."

Anir war auf Grund dieses unerwarteten Wiedersehens in Hochstimmung. Als er Ikken nach Einbruch der Dunkelheit endlich traf, schwärmte er von den alten Zeiten in höchsten Tönen und sah entsprechend zuversichtlich dem Zusammentreffen mit KeYNamM entgegen. Ganz entgegen seiner sonstigen Art sprudelte es nur so aus ihm heraus.

Endlich merkte Anir, dass Ikken in Gedanken mit einer anderen Sache beschäftigt war und dabei unruhig auf dem Sattel hin und her rutschte. Er rief ihn an, „Langweile ich dich mit den alten Geschichten? Ich erzähl schon von vergangenen Zeiten, wie ein Tattergreis!" Als Ikken verneinend den Kopf schüttelte, „Also nein! Aber dann verrate mir, warum rutschst du mit dem Hintern so in dem Sattel hin und her? Hast du Schmerzen? Ist dein Po durchgeritten?"

Da grinste Ikken „Kennst du das nicht? Hast du dort nie Schmerzen, nachdem du mit einem Freund zusammen warst?" Als Anir den Kopf schüttelte, wurde Ikken rot. "Nein? Wirklich nicht?" Ikken schaute Anir nun gespannt an, „Du rutschst aber auch aufgeregt im Sattel hin und her. Freust du dich schon so auf das Wiedersehen mit KeYNamM?" Als Anir nicht antwortete, „Ich kann dir was verraten!", grinste Ikken von Ohr zu Ohr, „Noch heute Nacht wirst du meinen KeYNamM-baba richtig kennenlernen. Der denkt schon seit dem Tag auf der Himmelsleiter an dich!"

In der sich verstärkenden Dunkelheit durchquerten die beiden im Trab die fast leeren Gassen des Marktfleckens im Osten von Tinghir, kamen etwas später an einer Kasbah vorbei, auf die sie nur deshalb aufmerksam wurden, weil aus ihren Fensterluken Licht fiel, und bogen, als es schon fast zu dunkel zum Reitern war, in ein Trockental ein, dessen Hänge im Dunkeln kahl und unbewohnt schienen. Als Ikken schließlich sein Pferd kurz anhielt und in einen fast unsichtbaren Seitenweg einbog, der bergan führte, schreckte Anir auf und war plötzlich hell wach.

„Hoppla, fast wäre ich von Pferd gefallen! Versteckt sich KeYNamM abseits der Straße im Nichts? Wie weit müssen wir noch reiten? In dieser Dunkelheit wird er uns nicht sehen!" Dann ermahnte er Ikken, „Reit vorsichtig Ikken oder willst du, dass dein Pferd im Dunkeln stolpert, du aus den Sattel fällst und dir das Genick brichst?" Ikken aber lachte nur, „Der Amestan sieht uns schon. Es ist abgemacht, dass wir hier abbiegen und so lange weiterreiten, bis er uns ein Zeichen gibt." „Im Dunkeln?", zweifelte Anir.

Kurz darauf ertönte der helle Gesang einer Wüstenlerche links vom Pfad. Ikken hielt sein Pferd sofort an und antwortete mit dem Gebell eines Wüstenfuchses. Ein Mann trat aus dem Dunkel an Anir's Pferd heran und sagte leise „Ich bin es, den du sprechen willst, der Amestan!" Er nahm Anir's Pferd am Zügel und führte es auf einen Sandweg, der zu der Ruine einer verlassenen Ghorfas, einer Speicherburg, führte, die auf der nächsten Anhöhe thronte. Ikken folgte ihnen.

Im Hof der Speicherburg glimmten Kohlen. Die flammten auf, als KeYNamM trockene Späne hineinwarf und beleuchteten die dunklen Höhlen, die einst Speicherkammern waren. Erst als alle drei ums Feuer hockten, brach der Amestan das Schweigen. „Willkommen in meinem Versteck, Ankläger! Du wolltest mich sprechen, hier bin ich. Leider kann ich kein guter Gastgeber sein. Ich kann dir nur Brot und Wasser anbieten, denn einer der unsichtbar bleiben muss, kann nur das Nötigste einkaufen."

„Ich bin froh Amestan, dich endlich wiederzutreffen. An gutem Essen liegt mir wenig, Brot und Wasser reichen, so bleibt der Kopf klar und die Gedanken werden nicht behindert." Dann verbeugte er sich, „Ich danke dir König vom Unland, das ich dich treffen darf. Aber warum machst du dich unsichtbar? Niemand fahndet nach dir!"

„Und der Tod des Gouverneurs? Wird mir der nicht zugerechnet?"

„Dem, der den Gouverneur getötet hat, gebührt der Dank der ganzen Stadt, sogar des gesamten Imperiums. Erst sein Tod hat seine himmelschreienden Taten ans Tageslicht gebracht. Er war das bestialische Monster, der Mörder all der unschuldigen Mädchen und Jungen, die in den letzten Jahren in der Stadt verschwunden sind. Daneben hat er noch viele weitere Rechtsbrüche begangen. Denke an Ikken's Vater, an seine halbblinde Muhme, denke an die Kinder, Jungfrauen und Mütter, die er als Tributzahlung im Draatal rauben ließ und in die Sklaverei schickte, denke an all die Missetäter, die er wegen kleinen Missetaten zur Zwangsarbeit in der Kristallmine verurteilte." Dann schwieg er kurz, „Der Stadthauptmann und ich sind uns einig, dass es drei Jinns waren, die Gouverneur Gwasila vom Leben zum Tod beförderten. Das haben wir dem Imperator mitgeteilt und dann überall in der Stadt und dem gesamten Bezirk bekanntgeben lassen. Was sollen wir dann noch nach Mördern in Menschengestalt suchen, wenn Kel Essuf und seine Jinns Gouverneur Gwasila geholt haben? Geh dorthin, wohin du willst, geh dorthin, wohin du musst ...", er schluckte kurz, „... aber ich habe eine Bitte, werde mein Freund, denn ...", plötzlich verstummte er und sah in die Flammen. Ikken aber setzte den Satz fort, als könne er Anir's Gedanken gelesen „... denn ich liebe dich und möchte deinen Söhnen auch Vater sein!" Anir erschrak, nickte dann aber nur und starrte weiter in die Flammen.

KeYNamM blickte erst zu Anir und dann zu Ikken. Lange sagte er nichts, dann stand er auf, schritt um das Feuer herum zu Anir, setzte sich neben ihn und legte ihm den Arm über die Schultern. „Bruder!", sagte er kaum hörbar, „Bruder, was soll ich diesen Worten noch hinzufügen. Seit wir uns das erste Mal sahen, denke ich an dich, sogar während des Kampfes gegen die Söldner des Gouverneurs gingst du mir nicht aus dem Kopf!"

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Die halbe Nacht saßen KeYNamM und Anir eng nebeneinander am Feuer und schienen zu träumen. Da sie nicht essen wollten, wünschte ihnen Ikken bald gute Nacht und suchte sich einen Schlafplatz in einer der leeren Speicherkammern. Der König vom Unland und der Staatsanwalt des Imperators aber begannen Gedanken auszutauschen, erzählten sich ihre Lebensgeschichten und ihre Träume.

Anir und KeYNamM waren nicht nur etwas gleich alt und gleich groß, auch ihre Lebensgeschichten ähnelten sich. „Ich erhielt meine Ausbildung weit entfernt von Mutter und Vater", erzählte KeYNamM. „Ich wuchs wild heran, ungebunden und trotzdem hatte der Marabout, der mich unterrichtete, keine Mühe mir all sein Wissen zu vermitteln. Das war eine großartige Zeit, mit all den Freunden, mit Jungen und Mädchen. Sie war plötzlich vorbei, als die Knechte des Imperators meinen Vater vergifteten. Noch in der Nacht seines Begräbnisses in Tamegroute wurde ich sein Nachfolger, wurde ich Amestan, der Mann ohne Namen, der König vom Unland, der Beschützer der Völker am Draa."

„Alle kennen dich nur unter dem Namen KeYNamM, d.h. Mann ohne Namen. Aber alle Mütter rufen ihre Kinder mit Namen. Hat deine Mutter dir keinen Namen gegeben? Meine nannte mich Anir, Engel, und ich bin stolz auf den Namen, auch wenn mich der Gouverneur immer Engel der Rache nannte!"

„Dir verrate ich das Geheimnis. Meine Mutter nannte mich „Draa", nach dem Fluss der aus den Bergen kommt, der im Sand versickert und wieder auftaucht. Seit alters her tragen alle Könige des Unlands diesen Namen, manchmal als ersten Namen, manchmal als zweiten, oft auch als dritten, aber sie tragen ihn immer. Du kannst mich so nennen, wenn du möchtest! Denn es ist mein erster Namen und du liebst mich."

„Draa, wie der Fluss!" Anir sprach das Wort langsam nach, „Draa! Draa! Draa! Welch schöner Name. Ich liebe DRAA!" Er rückte noch enger an den Amestan. „Meine Mutter starb zu früh, sie starb im Kindbett. Mein Vater erzog mich. Von ihm lernte ich lesen, schreiben, rechnen ... denn das brauchst du als Kaufmann am Nötigsten, sagte er immer. Dann, als ich in das Geschäft eingestiegen war, mit fünfzehn Jahren, unternahm er eine Kauffahrt zum Meer im Norden. Er kam bis ans Meer, aber nie zurück. Seinen Dolch entdeckte ich später bei einem Briganten. Der schwor, er habe meinen Vater nicht getötet und seine Waren nicht geraubt. Alle glaubten ihm, denn er war ein Freund des Imperators. Einer aber glaubte ihm nicht! Ich! Ich wollte ihn überführen! Ich verkaufte das Geschäft meines Vaters, studierte die Gesetze bei den berühmtesten Rechtsgelehrten und wurde schließlich Ankläger. Der Brigant aber starb, bevor ich ihn anklagen konnte."

Am Ende der Nacht zogen sich die beiden in eine Speicherkammer zurück, die weit entfernt von der lag, die sich Ikken für die Nacht ausgesucht hatte, und schiefen unter einer Decke bis sie Ikken weckte.

Ikken weckte das Gurren von Tauben, die in den leeren Speicherkammern nisteten. Als er weder KeYNamM noch Anir neben sich entdeckte, begann er sie zu suchen. Als er fast alle Getreidekammern abgesucht hatte, fand er sie. KeYNamM lag auf dem Rücken und schnarchte leise. Anir auf der Seite und drehte seinem neuen Freund den Rücken zu. Ikken hob einen Strohhalm vom Boden auf und begann KeYNamM an der Nasenspitze zu kitzeln. Beim dritten oder vierten Mal fuhr dieser hoch, fasste noch im Halbschlaf hinter sich, erwischte Ikken's Arm und zog ihn zu sich. Als er sah, dass es Ikken war, begann er ihn zu kitzeln, bis der laut auflachte.

Durch den plötzlichen Ruck und das Gekicher wachte Anir auf, drehte sich um und schon war Ikken zwischen den beiden eingeklemmt. Mit Fünf hätte er das genossen, aber jetzt? Er war doch viel zu alt, schon fast erwachsen, das hatten ihm die Spielereien mit Yufayyur und Tanan gelehrt. Er wollte sich gerade aus der Lage zwischen den beiden befreien und herauskriechen, als Anir begann ihn ebenfalls zu kitzeln. Bald konnte Ikken vor Lachen beinahe nicht mehr sein Wasser halten. „Hört auf, hört auf, sonst werde ich euch nasspinkeln. Sie ließen ihn flitzen und als er draußen vor dem Eingang zur Speicherkammer stand, ließ er die Hose herunter, drehte ihnen den Po zu und rief über die Schulter, „Anir, wird dir heute auch der Po jucken, wenn du heimreitest, so wie mir gestern?" KeYNamM verstand die Anspielung schneller als Anir und drohte Ikken mit dem Finger, „Pass auf! Pass auf Söhnchen, sonst tut dir noch dein Hintern von etwas anderem weh, meiner Hand!"

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