Madz ~ Schulzeit ~ (German)

Kapitel 18: Die Geschichte vom Hans Böheim, dem Pfeiferhannes von Niklashausen, unserm Hensele

Auf dem Grill unter der Blutbuche brutzelten schon die Würstchen als Jean auf dem schmalen Weg neben den Burggebäude auftauchte. Er zog einen schmalen Schüler hinter sich her, dessen Haar ebenso hell glänzte wie seines. Jean kannte ich, da mir Haaki seine Klassenkameraden im Pausenhof schon gezeigt hatte. Bei Jean hatte er als einzigem gesagt, der ist nett zu mir, hängt aber immer mit den zwei W‘s herum, mit Werner und Willi. Die beiden kann ich nicht leiden, das ist aber gegenseitig. Also Jean kannte also, nicht aber den anderen, den ich für seinen Bruder hielt. Dann erinnerte ich mich, es war der neue Untertertianer mit den langen Haaren. Da die aber weg waren, sah Jean zum Verwechseln ähnlich.

Da Haaki Jeans Kommen angekündigt und von seinem Namenstag erzählt hatte, stimmten wir ihm zu Ehren ein Lied zu seinem Namenstag an. Da wir keins gefunden hatten, hatten wir ein bekanntes Geburtstagslied umgedichtet;

Heut' Jaen ist Dein Namenstag
Dein schönster Tag im Jahr.
Wir wünschen, wir wünschen Dir .
Dir viel Spaß und Sonnenschein,
Gesundheit und viel Glück.
Alles Liebe zum Namenstag,
schön, dass es Dich gibt.

Jean! Jean! Lebe hoch!

Dazu hoben wir unsere Gläser mit Limo!

Jean war so überrascht, dass er zunächst nicht einmal eine Begrüßung heraus stammeln konnte. Dann fasste er sich aber und schob den anderer Gast vor. „Das ist Jan! Er heißt also auch Johannes und wir feiern zusammen Namenstag.“ Anders fasste sich am schnellsten, ging auf Jan zu und schüttelte ihm die Hand. „Gratuliere zum Namenstag!“ Wir folgten ihm und schüttelten beiden Johannes die Hände. Beide machten ganz große Augen, dass nicht nur  Haakon und seine ganze Bande hier waren, sondern auch Kaplan Carstens also Carlo. Sie staunten noch mehr, als einige Minuten später Alies mit dem Bulli vorfuhr und Paul, also der Lehrer Paul Beck, aus der Beifahrertür stieg. Noch größer wurden ihre Augen, als Paul die Schiebetür aufzog und sich Stadtpfarrer Mayer aus dem Auto herausquälte.

Mit dessen Erscheinen hatte keiner von uns gerechnet. Er begrüßte uns mit Hallo. „Ich kann meine Schäfchen doch nicht allein darüber beraten lassen, wie sie ein Fest zu Ehren der Schutzheiligen des Internats gestalten wollen.“ Dann drehte er sich zu Jean und Jan, „Ihr seid also neu dabei? Willkommen!“ und als er Tobias neben Odo entdeckte, der sich hinter seinem Freund versteckt hatte, zog er ihn hervor, „Wegducken gilt nicht Tobias. Jetzt hast Du ja auch einen Freund und was für einen. Du musst nur aufpassen, das Du ihn auf dem Heimweg nicht verlierst.“ bevor Tobias den Scherz noch verstanden hatte, lachte Stadtpfarrer Mayer, „Im Dunkeln findest Du Odo nie mehr, also halt ihn fest!“

Tobias lachte nur, „Odo finde ich immer, sogar wenn es stockdunkel ist, er riecht so gut. Odo riecht nach Odo!“ Da musste ich lachen, „Nach was riecht er? Für mich riecht er wie Kuchen, frisch gebackener Kuchen mit viel Vanille!“ „Nicht für mich. Für mich riecht er nach Afrika. Ich mag Afrika!“

Da die Würstchen auf dem Grill heiß waren, rief Carlo, Castor, „Gleich riecht‘s nach was ander‘m, nach verbrannten Würsten.“ Jetzt stürzten wir uns alle auf das Essen. Da wir wegen Stadtpfarrer Mayer‘s unangekündigten Besuch einen Teller zu wenig hatten, aßen Jean und Jan vom gleichen Teller, ja noch besser Jean füttere Jan. Erst hatte zwar Jan protestiert und Jeans Hand mit dem Würstchen weggeschoben, doch bald bissen sie abwechselnd ab und wie ich schnell merkte schnappte Jean nicht nur nach den Würstchen in Jans Hand, sondern auch nach dessen Fingern. Zum Glück merkte das keiner außer mir, mindestens nahm ich das an, bis auch Anders plötzlich meine Hand mit dem Würsten packte und so machte, als wolle er mir einen Finger abbeißen.

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Nachdem wir uns alle vollgefressen, eigentlich sagt man ja satt gegessen zurückgelehnt hatten, räusperte sich Stadtpfarrer Mayer, „Ich bin ja eigentlich nicht zum Essen hergekommen, vielmehr wollte ich sicher gehen, dass ihr die Geschichte vom Pfeiferhansel aus berufenen Mund hört, denn wenn ihr sie aufführen wollt oder eine Moritat über unsere Hensele schreiben wollt, solltet ihr wissen, was von ihm bekannt ist.

 Stadtpfarrer Mayer lehnte sich zurück und begann: „Vielleicht war es so ein Abend wie dieser, vielleicht war es später. Vielleicht glühten nur noch die Kohlen im Feuer, als der Pfarrer von Kehlheim einen Spaziergang entlang am Fluss machte. Angezogen vom Brstenduft am verließ er den Pfad und stand bald am Ufer an einer kleinen Feuerstelle am Ufer des Mains. Im flackernden Lichtschein erkannte er einen grauhaarigen Alten, eine ausgemergelte Frau und ein junges Mädchen. Das gefiel ihm vom ersten Augenblick an, denn ihre dunklen Augen glänzten schön wie ihre schwarzen Haare und ihre Lippen leuchteten so wie die Kohlen in der Glut. „Von weit her?“ fragte er. „Ja hoher Herr,“ antwortete der  Mann, aus Böhmen. Wir mussten vor des Kaisers Soldaten fliehen und nun sind wir hier gestrandet. Ich und meine Frau sind alt und zäh, wir möchten noch weiter aber unsere Enkeltochter ist todmüde, sie ist so erschöpft, das sie unbedingt eine Unterkunft braucht. Wo sie sich einige Tage ausruhen kann.“

Stadtpfarrer Mayer nahm einen Schluck Wein aus dem Glas, lächelte in die Runde und erzählte weite: „Ein Wort gab das andere und schließlich wurden der Pfarrer und der alte Mann darüber einig, dass das Mädchen als Magd im Pfarrhaus in Kehlheim bleiben solle und der Alte einen Silbertaler als Vorschuss auf ihren Lohn bekommen sollte.“

„War das vor 500 Jahren so üblich, dass man einfach jemanden kaufen konnte!“ fragte ich neugierig. „Kaufen ja nicht, aber damals wurden Kinder von ihren Eltern oft als Knecht oder Magd an einem Bauern oder Adeligen vermietet. Die Eltern bekamen den Lohn und die Kinder mussten in der Fremde arbeiten.“ Pfarrer Mayer schnaufte, „So war‘s wohl auch hier. Aber dem Pfarrer war das hübsche Aussehen des Mädchens aufgefallen und er heuerte sie an, obwohl er schon genug Mägde und Knechte hatte. Er war zwar nicht mehr jung, aber hübschen Mädchen konnte er nicht widerstehen. So kam es wie es kommen musste, er stellte das Mädchen als Magd ein aber gebrauchte sie nicht nur in Küche und Keller. Nach einigen Monaten wurde der Bauch des Mädchens dicker und dicker und nach neuen Monaten gebar sie ein Söhnlein. Das konnte der Pfarrer natürlich nicht brauchen. Er jagte das Mädchen fort. Die junge Mutter konnte aber mit dem kleinen Würmchen jedoch nicht in die große, weite Welt ziehen und legte es auf die Stufen der Pfarrkirche nieder.“

Jetzt erhob Anders Einspruch, „Ich habe doch auch keinen Vater und Alies auch nicht, aber unsere Mütter haben uns nicht ausgesetzt.“ „Ja damals, damals ging‘s rauer zu und das Aussetzen von Neugeborenen kam öfters vor.“ bemerkte Pfarrer Mayer mit traurigem Gesicht, „Jedenfalls fand eine Bäuerin das schreiend Kind am nächsten Morgen auf den Kirchenstufen, nahm es mit nach haus. Als ihr Mann schimpfte, meinte sie nur, wenn ich zwölf Kinder satt krieg, dann krieg‘ ich auch den dreizehnten Wurm satt.“

Inzwischen war Kinto müde geworden und legte seinem Kopf in Odos Schoß. Der kraulte ihm erst in den Haaren, dann streichelte er seinen Rücken und endlich steckte er ihm die Hand hinten in die Hose. Ich weiß nicht was er da mit den Fingern machte. Kinto war plötzlich wieder hellwach, protestiere aber nicht sondern machte nur Schnurrlaute wie eine Katze. Die waren aber so leise, dass ich es trotz der prasselnden Kohle kaum hören konnte. Stadtpfarrer Mayer erzählte aber ruhig weiter: „Der Bauer schimpfte, nahm den kleinen Schreihals aber trotzdem auf. Er wird aber später nichts erben, sagte er und er muss sein Essen selbst verdienen sobald er laufen kann. Sie ließen ihn taufen und er erhielt den Namen Johannes, weil er am Fest von Johannes dem Täufer gefunden worden war.

„Das ist doch heute!“ warf Jean ein, „Heut feier Jan und ich Namenstag!“ „Gratuliere!“ sagte Stadtpfarrer Mayer, prostete ihnen zu und meinte dann, „Das passt ja gut! Dann seid ihr auch zwei Henselin, aber welcher von euch ist das Pfeiferhenselin und welcherdas Paukerhenselin?“ Er wusste es nicht, aber ich vermutete, das Jan bald die Pfeife von Jean spielen und Jean seinen Trommelschlägel bei Jan ausprobieren würde. Ich glaub ich hatte recht! Aber daran dachte Stadtpfarrer Mayer bestimmt nicht und erzählte weiter: „Unser Henselin wuchs schnell und bevor er auch nur richtig laufen konnte, wurde er schon Hütejunge. Erst hütete er die Hühner, dann die Schweine und schließlich, als er flink genug war, wurden ihm die Schafe, Ziegen und Rinder anvertraut.“

Als er das hörte, zog Odo seine Hand aus Kintos Hose, schnupperte kurz an seinen Fingern und meinte dann, „Wir haben auch Ziegen und Kühe hütet. Kühe hab ich an liebsten gehütet, aber mit den Ziegen konnte ich besser herumspielen.“ Wie, sagte er nicht und ich nahm mir vor ihn morgen danach zu fragen. Kinto war inzwischen ausgeruht, setzte sich auf, gähnte und legte dann Odo seine Hand zwischen die Beine, als müsse er dort was festhalten. Stadtpfarrer Mayer hatte nicht mitgekriegt, wo Odo an Kinto herumgespielt hatte und erzählte ruhig weiter: „Ja, ja, Ziegen und Schafe hat er gehütet, unser Henselin. Aber unser Henselin war viel schlauer als seine Stiefbrüder. Von einem alten Hirten lernte er Flöten aus Weidenrinde zu basteln und eine Pauke aus einem alten Topf, den er mit der Blase eines Schweins bespannte. Er erlernte das Flöten und Pauken und bald spielte mit andern Musikanten zum Tanz auf. Schon mit neun Jahren spielte er mit anderen Hirten den Bauern zu Tanz auf. Tanz war immer am Abend vor den Feiertagen, vor allem vor Christi Himmelfahrt und vor Fronleichnam oder Maria Himmelfahrt und zu Erntedank und am Kirchweihtag. Auch an den übrigen Wochenenden gab‘s oft einen Tanz. Da sich unsere Henselin nur als Anhängsel der Bauernfamilie fühlte, riss er im Herbst mit dem alten Hirten aus und durchstreifte mit ihm das ganze Gebiet von Würzburg bis hinunter zum Odenwald. Zusammen streiften die beiden durch das Bauland, das Taubertal und durchs Hohenlohesche. Unterwegs lernte er die verschiedensten Menschen kennen, nicht nur geizige Bauern oder gierige Pfarrer, mit denen sie um jeden Groschen streiten mussten sondern auch hochmütige Adlige, die sie oft gar nicht bezahlten und sie  nach getaner Arbeit hungrig vors Tor jagten. Lieber hielt er sich bei den Fronbauern, den Leibeigenen und armen Handwerker auf. Die wussten was Hunger war und bezahlten sie, wenn sie abends für sie aufspielten, auch wenn‘s nur mit einer warmen Suppe und einem trockenen Platz zum Schlafen in einem Schuppen war.

So wurde unser Henselin 11 und 12 und dann auch 13. In dem jungen Alter verschwand er das erste Mal mit einer drallen Häuslertochter im Stroh. Und von da an suchte nach dem Tanz immer einen weichen Schlafplatz und wenn ihm kein Mädchen gefiel, dann gefiel ihm bestimmt ein Junge, mit dem er im Dunkeln verschwand, auch wenn der knochiger war.“

Aus den Augenwinkeln sah ich, dass Alies und Haaki sich ins Dunkle davonschlichen. Ihnen war die Erzählung zu lang geworden und das mit dem weichen Schlafplatz hatte sie wohl auf andere Gedanken gebracht. Stadtpfarren Mayer hatte wohl auch ihr Verschwinden bemerkt und begann nun zügiger zu erzählen, was auch deshalb notwendig wurde, weil die Dämmerung schon lange hereingebrochen war: „Als unser Henselin 1475 nach Walldürn zum Fest der Heiligen Dreifaltigkeit pilgerte, um dort mit den andern Musikanten das Heilige Blut zu verehren und natürlich auch den vielen Pilgern abends zum Tanz aufzuspielen, war sein Wandergefährte, der alte Hirt, schon gestorben. Er war die Woche zuvor gestorben, ausgezehrt und Blut spukend. Unsere Henselin war so traurig wegen seinen väterlichen Freundes, dass er am nächsten Morgen die dickste Kerze auf dem Markt kaufte, mit ihr zur Kirche pilgerte, sie dort anzündete und vor der Leinwand mit dem Bild Christi und seiner elf dornengekrönten Kopfe für die Seele seines Freundes ein Gebet sprach. Unser Henselin war nicht besonders fromm, daher musste er sich stark konzentrieren, um ein Gebet für seinen Freund zu sagen. Er schloss die Augen und kaum tat es dass, als er auf einmal den Gekreuzigten vor sich sah. Der war vom Kreuz in der Leinwand herabgestiegen, vor ihm hingetreten, schaute ihm durch die geschlossenen Augenlider in die Augen und begann zu flüstern. Unsere Henselin erinnerte sich nicht an das was Gekreuzigte zu ihm sagte, er konnte sich später nur an das Wort Maria erinnern.“

Ich schaute zum Stadtpfarrer Mayer, aber er bemerkte es nicht, denn er starrte zum Himmel und blieb lange Zeit stumm. Die Stille bemerkten auch die anderen, Anders, Odo, Kinto, Paul, Carlo und Jan der sich dicht an Jean gedrückte. Die vielen, auf ihn gerichteten Augen gaben aktivierte Stadtpfarrer Mayer wieder: „Unsere Henselin rätselte den ganzen Tag was ihm da widerfahren wäre. Erst schob er es darauf, dass er den Abend zuvor seinen Kummer in Most ertränkt hatte. Dann aber verwarf er diesen Gedanken, denn er wusste, das keineswegs betrunken schlafen gegangen war. War es dann eine Erscheinung, ein Wunder nur für ihn allein, eine Aufforderung, das er nicht so werden dürfte wie sein Wandergefährte und Lehrer. Er brütete den ganzen Tag über dieser Frage und als er am Abend mit den andern zum Tanz aufspielte, verspielte er sich dauern. Er konnte weder seiner Flöte einen geraden Ton entlocken, noch mit der Pauke den richtigen Takt schlagen. Als die Tänzer zu murren begannen, wurden die anderen Musikanten sauer auf ihn und schickten ihn weg.“

Ich begann auch zu rätseln. An Wunder zu glauben, hatte mir Oma abgewöhnt. Wunder gibt es nicht und auch keine Geister, sagte sie immer. Aber hier, d.h. dort in Walldürn, wo das Bluttuch ausgestellt wurde, gab‘s vielleicht dort doch so etwas? Ich wartete gespannt auf den weiteren Verlauf des Berichts. „Unser Henselin verließ den Kreis der Tanzenden. In Dunkel stolperte er fast in eine graue Gestalt, die mindestens einen Kopf größer war als er. „Nicht so gut drauf, heute Nacht?“ fragte die Gestalt. Henselin wollte schon weitergehen, doch der Mann hielt ihn am Ärmel fest. „Bübchen, Du hast Kummer. Willst Du darüber sprechen?“ Jetzt erst bemerkte unsere Henselin, dass der Mann eine knöchellange Kutte trug, die von einem dicken Strick zusammengehalten wurde. Sein Kopf  war geschoren und er ging barfuss. Er wollte schon abwehrend den Kopf schütteln, als der Mann fragte, „Was hat Dir der Heiland heute aufgetragen? Was hat er zu Dir gesagt?“ als Henselin ungläubig zu ihm hoch sah, nickte der Mönch bloß. „Ich habe den Heiland nicht gesehn, aber Deine Reaktion!“ „Ich weiß nicht. Ich zermartere mir schon den ganzen Tag den Kopf und es fällt mir nicht ein. Nein!“ „Wirklich nicht? Denk nach! Nicht ein Wort?“ Da seufzte Henselin, „Doch, ein Name! MARIA, immer wieder MARIA! Aber mehr weiß ich nicht.“ Da begann der Mönch zu fragen, „Maria, Mutter ohne Makel, Maria, unbefleckte Jungfrau, Maria, Mutter des Schöpfers, Maria Mutter der göttlichen Liebe und der Barmherzigkeit, Schlangenzertreterin, Maria, Mutter Du Zuflucht der Sünder! War es einer dieser Ehrennamen?“ Der Mönch hielt inne. „Erinnere Dich!“ „Ich weiß nicht. Der vom Kreuz gestiegene hat all diese Namen gesagt und noch viele mehr!“ Schweigend zog der Mönch  ihn weiter durch die Dunkelheit. Am Rand Waldürns blieb er vor einem Heuschuppen stehen. „Hier schlafe ich! Komm! Morgen wissen wir mehr!“

Der Stadtpfarrer räusperte sich, da sein Hals zu kratzen anfing. Erst nachdem Carlo ihm das Glas wieder voll geschenkt hatte und sein Kehle wieder feucht war, erzählte er weiter: „Am nächsten Morgen zogen sie aus Walldürn fort nach Osten. „Wir müssen weiter. Es gibt nur eine Lösung, wir müssen zur Kapelle der lieben Frau in Niklashausen. Wenn wir dort beten, zeigt Dir die Barmherzige die Lösung!“ Jetzt nahm er noch einen Schluck Wein und dann: „Auf dem Fußweg nach Niklashausen kamen sie an einer Höhle im Kalkstein vorbei. Dort, in der Nähe von Eberstadt schlugen sie ihr Quartier auf. Sie lebten einfach, aber hungerten nie, denn der Mönch erklärte den Bauern der Umgebung den Glauben und unterrichte unser Henselin in der Bibel, da der weder schreiben noch lesen konnte. Er begriff schnell, denn er hatte ein helles Köpfchen!“

Dann seufzte Stadtpfarrer Mayer: „Das was er von dem Wandermönch lernte, war vielleicht nichts für unser Henselin! Jedenfalls nicht alles davon. Der Mönch hatte nämlich in seiner Jugend die Lehren des Ketzers Hus und des Philosophen John Wyclif aufgesogen. Diese lehnten z.B. das Ablasswesen ab, die Verehrung der Reliquien und Heiligen und kritisierten, dass die Kirche ihren Besitz mehre, ihre Geistlichen habsüchtig seien und in Sünde mit Weibern zusammen lebten. Aber das war nicht alles. Diese Reformatoren verlangten zudem, dass sich die Gläubigen nur auf die Lehren der Bibel berufen sollten und nicht auf die des Papstes. Wie den Papst, so lehnten diese Prediger die Herrschaft des Kaiser und jeglicher Obrigkeit ab. Unser Henselin hatte als Kind unter dem zugefügten Leid so gelitten und bei seinen Leben als Musikant landauf und landab soviel Unrecht erfahren und gesehen, dass ihm die Lehren von Hus und Wyclif eine neue Welt eröffneten. Er saugte ihre Lehren und wie ein Schwamm auf. Diese Erziehung zog sich bis in die Fastenzeit des nächsten Jahres hin.“

In der folgenden Pause stärkte sich Stadtpfarrer Mayer, griff aber dann die Geschichte sofort wieder auf: „In der Woche vor Lätare, dem vierten Fastensonntag, pilgerten unser Henselin, nun zum Hans gereift, zum Marienheiligtum in Niklashausen. Dort wollte er Maria verehren, wie der herabgestiegene Heiland es von ihm verlangt hatte. Aber er wurde enttäuscht, nicht von dem Bild der Kapelle, aber von den Pilgern, die sich vor Maria der Himmelskönigin verneigten. Voll Zorn und unglücklich trat er nach der Messe aus der Kapelle, machte ein Feuer und verbrannte seine Flöte und seine Pauke. Die Menge scharte sich um ihn, denn sie erinnerten sich an den Spaßmacher und den Pfeiferhannes und Pauker. „Was machst Du da Pfeiferhenselin? Warum zerstörst Du Deine Instrumente, mit denen Du uns Freude brachtest?“ „Freude? Freut Euch auf den Himmel, freut Euch auf die Freude auf Erden, die Gleichheit, die Brüderlichkeit, die Freiheit! Opfert eure Schätze unserem Herr, dem Gekreuzigten, der Euch erlöst hat, bringt sie vor seine Mutter Maria, die Mutter der Barmherzigkeit. Werdet frei, wie die Vögel auf den Feldern, wie die wilden Tiere im Wald, werdet frei von der Unterdrückung der Fürsten und Pfaffen, werdet frei von der Vormundschaft des Kaisers und des Papstes, werdet frei und werdet ein einig Volk, das niemanden untertan ist, als Gott allein!“ Die Pilger staunten, begriffen jedoch seine Botschaft nicht sofort. Als sie heimgingen diskutierten sie das Gehörte und allmählich ging ihnen der Sinn der Botschaft auf. Manche kehrten sofort um, andere kehrten am nächsten Sonntag zur Gnadenkapelle zurück. Die Bäuerinnen legten ihre prachtvollen Tücher, ihre Gürtel, ihren Schmuck vor dem Gnadenbild ab und opferten sie Gott. Die Bauern und Handwerker kauften armdicke Kerzen aus duftenden Bienenwachs und Gefäße voll mit Balsam und brachten sie vor das Bild der Himmelskönigin. Alle hofften, dass ihre Sünden vor Gott wie Rauch verwehen würde.“

Stadtpfarrer Mayer seufzte: „Aber noch mehr geschah! Die Zeit war reif und Henselins Botschaft verbreitete sich übers Land, wie Feuer in einer ausgetrockneten Heide. Bald sprachen Bauern und Handwerker, Leibeigene und Bettler landauf und landab von nichts anderem als von der Botschaft des Henselin, Sie nannten ihn von jetzt ab Prophet Hans Beheim. Bald kamen Pilger von weither, aus Oberfranken, Niederfranken, der Pfalz, aus Schwaben, aus Bayer sogar aus der Schweiz. Der Prophet Hans Beheim predigten den Frühsommer lang. Als sich soviel Pilger versammelten, dass sie ihn auf der Anhöhe der Kapelle nicht mehr sehen konnten, stieg unser Henselin auf eine großes Fass und verkündete seine Botschaft von dort und als das nicht reichte, stieg er ins Kirchlein hoch und predigte aus den Turmfenster.“

„Die Gaben der Pilger häuften sich in der Kapelle und der angehäufte Reichtum machte die Fürsten, die Klöster und Bischöfe nah und fern neidisch. Noch mehr störte sie  jedoch seine Botschaft. Er konnte doch nicht sein, dass alle Menschen von Gott gleich geschaffen worden waren! Er konnte doch nicht sein, dass geistliche und weltliche Fürsten, Kaiser, Könige, Grafen und Ritter nur soviel besitzen dürfen, wie der gemeine Mann. Als höchste Blasphemie aber galt ihnen jedoch, dass er Papst und Kaiser Bösewichte nannte. Er predigte, dass die für ihren Hochmut im Feuer brennen würden wie Räuber und Mörder.

Der Fürstbischof von Würzburg und die andern Fürsten, Äbte und Pfaffen hielt unsere Henselin für einen Aufrührer. Er ließ ihn in der Dunkelheit nach Würzburg entführen. Die Häscher brachte ihn auf die Feste und warfen ihn ins Verlies. Vor dem bischöflichen Gericht wurde ihm der Prozess gemacht. Nur nach einer Stunde verurteilte das Gericht ihn als falschen Propheten zum Scheiterhaufen. Am 19. Juli 1476 wurde unser Henselin in Würzburg verbrannt, obwohl ihm keine Schuld und schon gar keine Umsturzabsicht nachzuweisen war. Sogar im Feuer verhielt er sich wie ein Heiliger und vergab seinen Verfolgern.“

Nach der langen Ausführung, die Stadtpfarrer Mayer mit Leidenschaft vortrug, schloss er die Augen und schwieg erschöpft. Wir aber, seine Schüler, aber auch Carlo sein Kaplan und Paul unser Lehrer wussten nicht, was wir zuerst diskutieren sollten, die Verhältnisse dieser Zeit, die Auswirkung der Predigten des Henselin auf spätere Zeiten oder seinen grausamen Tod. Odo ergriff als erster das Wort, „Bei lebendigen Leib verbrannt? Die waren ja damals so schrecklich wie die Soldaten der Lord‘s Resistance Army. Meine Freunde und ich haben eine niedergebrannte Hütte durchsucht und haben darin zwei verschmorte Menschen gefunden. Ihre Körper waren verkrampft. Sie hatten bestimmt noch gelebt, als die Soldaten die Hütte angezündet hatten.“ Odo schluckte, dann begann er zu schwören, „Joseph Rao Kony, Du muss dafür büßen! Ich komm zurück Rao Kony. Ich töte Dich! Ich Odoc töte Dich!“

Der Ausbruch erstaunte weder mich noch Tobias, also Kinto.. Der flüsterte nur leise, „Odo sagt oft so etwas im Schlaf. Im Schlaf sagt er‘s!“ Dabei umarmte er Odo und wischte ihm durchs Gesicht. Wahrscheinlich hatte Odo Tränen in den Augen aber im Dunkel konnte ich’s nicht sehn. Stadtpfarrer Mayer erhob sich, ging um das fast erloschene Feuer zu Odo und begann ihm über‘s Haar zu streicheln. „Odo, mein Odo! Was hast Du schon alles durchmachen müssen! Aber hier droht Die keine Gefahr und alle lieben Dich. Schau doch Odo, wir mögen Dich alle, Madz, Anders und die andern. Sei bitte nicht so traurig.“

Da nach Odos Reaktion keiner mehr reden wollte, rief Alies, „Schnell zum Bus. Stadtpfarrer Mayer, Du setzt Dich neben mich und die andern sitzen hinten!“ Dann fuhr der überladene Bus zurück ins Dorf und lud uns aus. Jean und Jan, Odo und Tobias wollten zu Fuß zurück zum Internat gehen. „Ich glaub Odo braucht das!“ meinte Jean. Das letzte was ich von den Vieren sah, dass sie sich an den Händen zu halten begannen bevor sie die Dunkelheit verschluckte.

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